New York Bringt Corona die New Yorker U-Bahn zum Stillstand?

AP/tsha

12.5.2020

New Yorks U-Bahn fährt durchgängig. Vergangene Woche standen die Bahnen zum ersten Mal vier Stunden lang aufgrund von Corona still - für die Reinigung und Desinfektion.
New Yorks U-Bahn fährt durchgängig. Vergangene Woche standen die Bahnen zum ersten Mal vier Stunden lang aufgrund von Corona still - für die Reinigung und Desinfektion.
Bild: Keystone

Seit mehr als einem Jahrhundert fährt die New Yorker U-Bahn praktisch ununterbrochen. Das Konzept der letzten Bahn – in New York quasi unbekannt. Bis jetzt.

New Yorks erste U-Bahnlinie fuhr von Lower Manhattan nach Harlem. Seit der Betriebsaufnahme stand die U-Bahn niemals still. Es gab zwar kurze Unterbrechungen im Zuge der Terroranschläge vom 11. September 2001 und in den vergangenen zehn Jahren auch durch Schneestürme und Hurrikans, aber mehr als 115 Jahre lang hat das Rumpeln und Ruckeln auf den Schienen den Herzschlag von New York City aufrecht erhalten. Eine zweite Stadt aus Tunneln, die wie die Metropole oben niemals schläft.

Vergangene Woche hielten die Bahnen zum ersten Mal im Zuge einer geplanten nächtlichen Pause. Zwischen 1.00 Uhr und 5.00 Uhr schlossen die U-Bahnen und die 472 Stationen New Yorks für eine Reinigung und Desinfektion der Züge. Es ist ein demütigendes Zugeständnis einer Stadt, die sonst die ganze Nacht durchhält, und sie zeigt vor allem, wie sehr New York getroffen wurde.

Obdachloser verliert seine Übernachtungsmöglichkeit

Spätabends vor einigen Tagen, als die Züge langsam weniger wurden, war die einzige Person auf dem Bahnsteig der Haltestelle 145th Street – vor 115 Jahren die Endstation – ein Mann namens Joe Hall, ein 58-jähriger Obdachloser. Er schob seinen Wagen voller Plastikflaschen vor sich her und wartete auf einen der letzte Züge. In eine Unterkunft wollte er nicht – zu gefährlich, sagte er, wegen der hohen Infektionsrate – und da er die U-Bahn demnächst verlassen musste, plante er, auf der Strasse zu schlafen. «Ich habe Hunger.»

Abgesehen von Pendlerzügen in die Vororte ist das Konzept der «letzten Bahn» in New York praktisch unbekannt. London, klar. Boston, natürlich. Sogar Tokio. Aber nicht New York. Die Bahnen in New York haben immer Arbeiter der Frühschicht und Nachtschwärmer durch die Nacht befördert. Eine vierstündige Unterbrechung mag angesichts all der Veränderungen durch die Pandemie nicht wie ein drastischer Schritt erscheinen. Aber in New York ist es ein Riss im Gewebe.



«Ohne die U-Bahn funktioniert New York nicht. Die Leute sagen jetzt, ‹Was, wenn die Leute nach der Epidemie selbst fahren?›. Nun, das können sie nicht. Wenn alle Leute, die in New York fahren wollen, fahren, dann müsste man Long Island bepflastern, um all die Autos zu parken», sagt Kenneth T. Jackson, ein Geschichtsprofessor an der Columbia-Universität und Autor von «Empire City: New York Through the Centuries». «Sie ist wichtiger als öffentliche Schulen. Wichtiger als alles andere.»

U-Bahn essentiell für Nachtarbeiter

Selbst während eines Lockdowns hat ein Stopp der Bahnen einen enormen Effekt. Die Zahl der Fahrgäste ging im April zwar um mehr als 90 Prozent zurück, doch die Transportbehörde MTA schätzte, dass immer noch 11'000 Menschen die Züge über Nacht nutzten. Viele arbeiten in wichtigen Berufen und andere – Pfleger, Hausmeister – können es sich nicht leisten, nicht zu arbeiten.

«Man sieht die wachsende Kluft zwischen den Wohlhabenden und den Nichtshabenden überall in New York City. Das zeigt sich jetzt ganz klar», sagt Clifton Hood, Autor von «722 Miles: The Building of the Subways and How They Transformed New York» (zu deutsch: 722 Meilen: Der Bau der U-Bahnen und wie sie New York veränderte). «Die meisten Berufstätigen sind in der Lage, von zu Hause zu arbeiten. Was man jetzt sieht, sind die Leute, die keine andere Wahl haben.»

Die Obdachlosen tragen die Hauptlast des Shutdowns. Typischerweise nutzen etwa 2000 obdachlose Menschen die Züge als einen warmen Ort, wo sie die Nacht verbringen. Jetzt, um 1.00 Uhr, treffen sie an Endhaltestellen auf die Polizei (etwa 1000 Beamte wurden für den ersten Shutdown eingesetzt), Hunderte Reinigungskräfte und eine Hand voll Sozialarbeiter, die die Leute in Unterkünfte oder Krankenhäuser bringen. In der ersten Nacht nahmen 139 der 252 Obdachlosen Unterstützung an, wie die Stadt mitteilte.

Giselle Routhier von der Koalition für die Obdachlosen glaubt, die Stadt müsse mehr tun und Hotelzimmer für Obdachlose anmieten. Insbesondere nachdem Gouverneur Andrew Cuomo ein Pressefoto einer schlafenden obdachlosen Person in einem Zug als «ekelhaft» bezeichnet hat, sieht Routhier Bemühungen, obdachlose Menschen von einem ihrer wenigen Rückzugsorte zu vertreiben.

«Die Leute haben Angst um ihr Leben und sie suchen in den U-Bahnen Zuflucht, weil es sich für sie nach der sichersten Option anfühlt. Die Stadt nutzt die Polizei, um die Leute auf die Strasse und ins Offene zu bewegen», sagte Routhier. «Es ist ein sichtbares Manifest unseres Politikversagens, mit Obdachlosigkeit umzugehen.»

Behörde kümmert sich nicht um Obdachlose

Sarah Feinberg, die derzeitige Präsidentin der Transportbehörde MTA, sagt, es könne nicht Aufgabe des Transportsystems sein, für Obdachlose zu sorgen. Feinberg hatte den Posten im Februar von Andy Byford übernommen, nachdem dieser mit Cuomo aneinandergeraten war. Sie hätte niemals erwartet, mit dem Shutdown der U-Bahnen Geschichte zu schreiben.

An der überirdischen Haltestelle Woodlawn in der Bronx, in der Nähe eines berühmten Friedhofs, auf dem auch Opfer des Coronavirus begraben liegen, begrüssen sich Mitarbeiter der U-Bahn fröhlich per Ellenbogenschlag. Sie sind deutlich zahlreicher als die wenigen Passagiere. Roberto Rosario, ein 53-jähriger Mitarbeiter, freut sich über die nächtliche Abschaltung. «Ich habe die Züge noch nie so sauber gesehen», sagt er.

Mehr als 100 Mitarbeiter des öffentlichen Nahverkehrs starben an Komplikationen in Verbindung mit dem Virus. Busfahrer, die nachts für die Aufrechterhaltung des Betriebs eingesetzt wurden, traf es besonders hart.



Sarah Kaufman, stellvertretende Direktorin des Rudin Center for Transportation der New York University, glaubt, dies könne eine Gelegenheit für New York sein, alternative Transportmöglichkeiten zu erkunden, und das Fahrradsharing-Programm oder die Bewegung für autofreie Strassen auszuweiten.

New Yorker U-Bahnen wurden häufig wegen ihrer Überfüllung kritisiert. Etwa fünf Millionen Menschen nutzen sie an einem normalen Werktag. Die derzeitigen Regeln zur Wahrung des Abstands seien nicht durchführbar, sagt Feinberg.

«Wir müssen uns darauf verlassen, dass die medizinischen Experten anfangen, gute und solide Ratschläge zu geben, wie die Leute in ein öffentliches Verkehrssystem zurückkehren», sagt Feinberg. Niemand wisse, wann und wie viele Fahrgäste zurückkommen, doch sie werden zurückkommen. «In New York City haben wir keine Wahl.»

Verkehrsadern auf der Schiene sind lahmgelegt

Im Moment bleiben die Verkehrsadern der Metropole blockiert. Die Stadt schläft, solange der Klang von Sirenen sie nicht aufweckt. Entlang von Strecken wie der Linie 7, die wegen ihres Wegs durch Einwandererbezirke in Queens auch «internationaler Express» genannt wird, ist es, als wären Länder voneinander abgeschnitten.

Aber so schwer es auch ist, sich New York in all seiner Vielfalt und Dichte wiederbelebt vorzustellen, es wird geschehen, sagen Historiker zuversichtlich. Eine Masse von Menschen wird wieder an Bord des Expresses gehen. Nach 9/11 sagten einige das Ende des Wolkenkratzers voraus und dass sich die Menschen ängstlich von den Drehkreuzen abwenden würden. Stattdessen folgte ein Bauboom und die Fahrgastzahlen stiegen in die Höhe.

«Ich ziehe es vor, die Abschaltung eher als eine Art Frühjahrsputz denn als eine Vorahnung des Untergangs zu betrachten», sagt Mike Wallace, Autor von «Gotham: Eine Geschichte von New York City bis 1898». «Trotz aller Schrecken der letzten Wochen hat New York andere Katastrophen überstanden, und seine Widerstandsfähigkeit sollte nicht unterschätzt werden.»

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