Scharfe Kritik von Experten USA ziehen Bericht über drohende Hungersnot in Gaza zurück

tpfi

27.12.2024 - 23:00

Palästinensische Frauen und Mädchen kämpfen am Freitag, dem 6. Dezember 2024, in einem Verteilungszentrum in Khan Younis im Gazastreifen um Lebensmittel.
Palästinensische Frauen und Mädchen kämpfen am Freitag, dem 6. Dezember 2024, in einem Verteilungszentrum in Khan Younis im Gazastreifen um Lebensmittel.
Archivbild: Abdel Kareem Hana/AP/dpa

Ein Bericht eines US-Frühwarnsystems für Hungersnöte über die Lage im Gazastreifen stösst auf Widerstand des amerikanischen Botschafters in Israel. Überraschend wird der Report kassiert, was wiederum scharfe Kritik von Experten nach sich zieht.

DPA, tpfi

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  • Ein Bericht eines US-Frühwarnsystems für Hungersnöte (FEWS) über die Lage im Gazastreifen wird überraschend zurückgezogen.
  • Der amerikanische Botschafter in Israel, Jacob Lew, hatte den Bericht als «fehlerhaft und verantwortungslos» bezeichnet.
  • Menschenrechtler und Experten für Entwicklungshilfe kritisierten das US-Vorgehen als mögliche politische Einflussnahme auf die Arbeit von FEWS.

Ein US-Bericht mit Warnungen vor einer drohenden Hungersnot im Norden des Gazastreifens ist überraschend zurückgezogen worden. Die US-Entwicklungshilfebehörde (USAID) bestätigte der Nachrichtenagentur AP, dass sie den von ihr finanzierten Dienst Famine Early Warning System (FEWS) – eine Art Frühwarnsystem für Hungersnöte – gebeten habe, seinen Report zu widerrufen. Der amerikanische Botschafter in Israel, Jacob Lew, hatte den Bericht zuvor als «fehlerhaft und verantwortungslos» bezeichnet. Die Erkenntnisse spiegelten die sich rapide verändernden Umstände im Norden des Gazastreifens nicht adäquat wider, erklärte er.

FEWS war in den 80er Jahren nach Hungersnöten in Ost- und Westafrika von USAID als Instrument geschaffen worden, um Regierungen weltweit auf unabhängiger Basis über unmittelbar drohende Lebensmittelkrisen zu informieren. Diese Arbeit schliesst auch Kriegszonen ein. Berichte veröffentlicht der Dienst über die Webseite FEWS Net.

Menschen stehen im Flüchtlingslager Dschabalija im Norden des Gazastreifens für Essen an. 
Menschen stehen im Flüchtlingslager Dschabalija im Norden des Gazastreifens für Essen an. 
Archivbild: Keystone

FEWS bestätigte am Donnerstag, dass es die Warnung für den Norden des Gazastreifens zurückgezogen habe. Für Januar sei mit einer Neuveröffentlichung des Berichts mit angepassten Daten und Analysen zu rechnen.

Starker Rückgang von Hilfslieferungen

Im Norden des Gazastreifens sind Tausende Menschen vor einer intensivierten israelischen Militäroffensive gegen die militant-islamistische Hamas geflohen, die nach Angaben von Hilfsgruppen seit Oktober einen starken Rückgang von Hilfslieferungen in das Gebiet zur Folge hat. Im zurückgezogenen FEWS-Report ist von einer «weitgehenden Totalblockade» Israels die Rede. Zwischen Januar und März könnten zwischen zwei und 15 Menschen pro Tag an Hunger und damit verbundenen Leiden sterben, sollte Israel sein Vorgehen nicht ändern, hiess es. Zu international anerkannten Kriterien für eine Hungersnot gehören zwei oder drei tägliche Todesfälle durch die Folgen von Hunger pro 10’000 Einwohner.

Zwar habe Israel im Sommer auf Druck der USA hin den Umfang der Hilfslieferungen erhöht, die es in den Gazastreifen lasse, erklärten UN-Vertreter. Doch zuletzt habe Israel nahezu alle Hilfslieferungen in den Norden des Gebiets wieder blockiert. Die Amerikanerin Cindy McCain, Exekutivdirektorin des UN-Welternährungsprogramms, mahnte kürzlich verstärkten politischen Druck an, um mehr Nahrungsmittel für Palästinenser in das Territorium zu bekommen.

Auslieferung von Hilfsgütern kaum möglich

Israels Regierung hat erklärt, dass es seit einigen Monaten gezielt gegen weiter im Norden des Gazastreifens aktive Hamas-Mitglieder vorgehe. Die meisten Bewohner des Gebiets seien in die Stadt Gaza geflohen, in die das Gros der für den Norden bestimmten Hilfsgüter gelange. Zudem beschränke es Hilfslieferungen für den Gazastreifen nicht, betonte Israel. An Grenzübergängen türmten sich vielmehr Ladungen mit Gütern, würden aber von Hilfsgruppen nicht abgeholt. Die UN und andere Organisationen beklagen allerdings, dass israelische Restriktionen, anhaltende Gefechte, Plünderungen und unzureichende Sicherheitsmassnahmen der israelischen Streitkräfte eine effektive Auslieferung unmöglich machten.

US-Botschafter Lew kritisierte, die Hungersnot-Warnung von FEWS beruhe auf «überholten und ungenauen» Zahlen. Er verwies auf eine unklare Datenlage darüber, wie viele der 65’000 bis 75’000 im Norden des Gazastreifens verbliebenen Menschen sich in den vergangenen Wochen tatsächlich zur Flucht entschlossen hätten. Das habe die Erkenntnisse von FEWS verzerrt. Die Organisation hinter dem Frühwarnsystem betonte in ihrem nun zurückgezogenen Bericht indes, dass die Einschätzung zu einer bevorstehenden Hungersnot auch dann Bestand hätte, wenn weniger als 10’000 Menschen an Ort und Stelle blieben.

Mögliche politische Einflussnahme

Die Entwicklungsbehörde USAID erklärte der AP, sie habe den Bericht von FEWS bereits vor dessen Veröffentlichung geprüft. Dabei seien «Diskrepanzen» bei Bevölkerungsschätzungen und bei anderen Daten aufgefallen. Daher habe man die Organisation hinter FEWS gebeten, den Ungereimtheiten nachzugehen und im endgültigen Report darzulegen, wie sich diese auf die Vorhersagen zu einer Hungersnot ausgewirkt hätten. Die Anweisungen seien noch vor der Erklärung des Botschafters Lew übermittelt worden, betonte USAID. Doch habe FEWS Net die Bedenken nicht ausgeräumt und den Bericht trotz der fachlichen Anmerkungen und einer Bitte um Austausch veröffentlicht. Daher habe USAID schliesslich die Zurückziehung des Berichts erbeten.

Menschenrechtler und Experten für Entwicklungshilfe kritisierten das US-Vorgehen als mögliche politische Einflussnahme auf die Arbeit von FEWS. «Diese Wortklauberei über die Zahl der Menschen, die dringend Nahrungsmittel brauchen, scheint eine politisierte Ablenkung von der Tatsache zu sein, dass die israelische Regierung die Einfuhr von praktisch allen Lebensmitteln blockiert», erklärte Kenneth Roth, früherer Direktor der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. «Die Regierung von US-Präsident Joe Biden scheint ihre Augen vor der Realität zu verschliessen, aber den Kopf in den Sand zu stecken, gibt niemandem Nahrung.»

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