Politologe analysiert Wahltrend 2023 «Der Linksrutsch wird korrigiert»

Von Monique Misteli

26.10.2022

Eine Trendwende im Parlament zeichnet sich gemäss dem ersten Wahlbarometer ab.
Eine Trendwende im Parlament zeichnet sich gemäss dem ersten Wahlbarometer ab.
Bild: Keystone

Das erste Wahlbarometer zeigt: Die «grüne Welle» ebbt ab und die bürgerlichen Parteien legen zu. Was das für die Wahlen 2023 bedeutet, erklärt der Politgeograph Michael Hermann.

Von Monique Misteli

26.10.2022

Herr Hermann, im Studienbericht steht, dass trotz bewegter Zeiten die politische Lage «bemerkenswert stabil» sei. Haben Sie mit grösseren Veränderungen gerechnet?

Wenn man die aktuellen Ergebnisse mit den Entwicklungen in den umliegenden Ländern anschaut, dann hätte man schon mit grösseren Veränderungen rechnen können. Wir leben aktuell in ausserordentlichen Zeiten.

Und trotzdem erstaunt es mich nicht wirklich, denn es ist halt «typisch Schweiz». Bis jetzt sind wir von grösseren Krisen verschont geblieben, beispielsweise einer hohen Inflation.

Ausserdem sind in Krisenzeiten besonders die Regierungen gefragt und nicht die Parteien selbst. Unsere Landesregierung ist ja eine breite Allianz über das ganze politische Spektrum hinweg. Deshalb werden nicht einzelne Parteien mit schlechten Wahlergebnissen für die Taten der Regierung abgestraft.

Die grüne Welle neutralisiert sich selbst, indem die Grünliberalen am meisten Wähler*innen dazugewinnen, die Grüne am meisten verlieren sollen. Was bedeutet dies für die Klimapolitik?

Zur Person
Portrait of the political scientist Michael Hermann, pictured on April 13, 2011 in Zurich, Switzerland. (KEYSTONE/Martin Ruetschi)
Keystone

Michael Hermann (51) ist Geograph und Politikwissenschaftler. Er ist Leiter der Forschungsinstitut Sotomo und fühlt mit Umfragen regelmässig den Puls der Schweizer Bevölkerung. Zudem lehrt er am Geographischen Institut der Universität Zürich.

Zwar ist das Klimathema noch immer ähnlich aktuell wie 2019. Es hat sich aber insofern verändert, als dass es in der ganzen Klima- und Energiedebatte nun auch mehr um Versorgungssicherheit und Energiesouveränität geht. Das sind Themen die auch andere Parteien betreffen.

Das dürfte also nicht eine totale Umkehr der Klimapolitik bedeuten. Vielmehr, dass diese nicht noch mehr an Gewicht gewinnt.

Wäre der Anspruch der Grünen auf einen Bundesratssitz gefährdet?

Einen Anspruch kann man immer stellen. Aber damit die Grünen in den Bundesrat einziehen können, bräuchte sie noch mehrere Wahlsiege in Folge. Nur so könnten sie genügend Druck aufbauen. Verlören sie nur ein klein wenig, sehe ich bei den Gesamterneuerungswahlen keine Chance auf einen Sitz.

Die FDP gehört laut den Umfrageergebnissen zu den Gewinner*innen. Wie hat die FDP den vermeintlichen Turnaround geschafft?

Bei der letzten Wahlbarometer-Umfrage war Corona noch ein grosses Thema. Ein Thema, das die Partei gespalten hat. Auch die Abstimmung über das CO2-Gesetz hat die Basis und die Partei auseinander driften lassen.

Thierry Burkart hat es geschafft, die Basis und die Partei wieder näher zueinander zu bringen und Vertrauen zu gewinnen. Denn die FDP funktioniert am besten, wenn sie sich klar bürgerlich positioniert.

Das politische Pendel soll nach dem Linksrutsch von 2019 wieder zurückschlagen. Stehen wir vor einem Rechtsrutsch?

Jein, das Pendel geht nur halb zurück. 2019 wurde der Nationalrat deutlich linker als gewöhnlich. Das Pendel schlägt nun nicht einfach komplett in die andere Richtung aus, sodass wir ein bürgerliches Parlament wie anno 2015 haben werden. Der Linksrutsch wird vielmehr korrigiert.

Was bedeuten die Resultate für den bevorstehenden Wahlkampf?

Zuerst ein Blick zurück: Das Klimathema kam erst 2018, also knapp ein Jahr vor den letzten Wahlen so richtig auf. Es brauchte also nur ein Jahr, um die grüne Welle auszulösen.

Für die kommenden Wahlen werden wohl soziale Themen wie Krankenkassenprämien oder Lebenshaltungskostenweiter an Bedeutung gewinnen, was der SP in die Karten spielen dürfte. Mit den aktuell hohen Zuwanderungsraten könnte das Thema Migration wichtiger werden, was wiederum der SVP Schwung verleihen könnte.

Ich denke, wir stehen am Anfang einer Trendwende, bei der die FDP wie auch die SP besser dastehen werden, die Grüne ihren Zenit erreicht hat und die Grünliberalen an Dynamik verlieren.