Experte zu den steigenden Fallzahlen «Momentan gibt es keinen Grund zur Aufregung»

Von Uz Rieger und Maximilian Haase

22.7.2021

Der Chef des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts in Basel Jürg Utzinger bleibt bei der momentanen Corona-Lage in der Schweiz gelassen.
Der Chef des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts in Basel Jürg Utzinger bleibt bei der momentanen Corona-Lage in der Schweiz gelassen.
Bild: zVg / Swiss TPH

Die Taskforce-Vizepräsidentin hat am Dienstag vor einer vierten Welle gewarnt. Jürg Utzinger, Direktor des Tropeninstituts, betont im Gespräch, dass man mittlerweile Instrumente habe, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. 

Von Uz Rieger und Maximilian Haase

Die wissenschaftliche Covid-19-Taskforce des Bundes hat in dieser Woche angesichts der wieder stark steigenden Corona-Fallzahlen und des abnehmenden Impftempos vor einer weiteren Pandemie-Welle gewarnt. «Wir können nochmals eine Welle erleben, die höher war als im letzten Herbst», mahnte die Taskforce-Vizepräsidentin Samia Hurst auf dem Point de Presse der Experten des Bundes am Dienstag in Bern. Hurst kritisierte dabei auch, es sei riskant, «nur auf die Hospitalisationen zu achten». 

Der Direktor des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts Jürg Utzinger sieht derzeit jedoch noch keinen Grund für Alarmismus. Der Epidemiologe erklärt «blue News», warum der Anstieg der Fallzahlen als alleiniger Faktor indes noch kein Grund zur Beunruhigung ist. Man müsse eine «Kombination von Indikatoren in den Blick nehmen», um zu erkennen, ob Gefahr für das Gesundheitssystem droht. «Wir haben die nötigen Instrumente dazu», sagt Utzinger.

Was ist vom politischen Signal zu halten, trotz steigender Fallzahlen mit Massnahmen zuzuwarten?

Jürg Utzinger: Wir beobachten natürlich diese rasch steigenden Fallzahlen. Allerdings müssen wir das Infektionsgeschehen und die Covid-19-Dynamik breiter betrachten. Die Fallzahlen sind ein wichtiger Indikator, und ja, klar: dieser zeigt momentan nach oben.

Auf dieses Signal muss man gut achtgeben. Aber wichtig ist auch: Wie sieht es aus mit den schweren Krankheitsverläufen und Hospitalisierungen? Auch interessant ist: Aus welcher Altersgruppe kommen die zunehmenden Fallzahlen, und sind insbesondere die Nichtgeimpften betroffen?

Zur Person
zVg / Swiss TPH

Jürg Utzinger ist Professor für Epidemiologie an der Universität Basel und leitet seit 2015 als Direktor das Schweizerische Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH). Seine Forschungsinteressen und Lehrtätigkeiten fokussieren auf die Epidemiologie, vernachlässigte Tropenkrankheiten und die Bewertung gesundheitlicher Auswirkungen von Grossprojekten in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen.

Die neusten Daten in der Schweiz zeigen, dass vor allem die Jungen, also Leute zwischen 10 und 19 Jahren und 20 bis 29 betroffen sind. Gerade bei diesen Altersgruppen haben wir in der Regel ein sehr kleines Risiko für schwere Krankheitsverläufe oder auch für Hospitalisierungen. Es geht also darum, eine Kombination von Indikatoren in den Blick zu nehmen. Wenn das gesamte Indikatoren-Bündel in die falsche Richtung zeigt und insbesondere Gefahr bestehen könnte, unser Gesundheitssystem an den Anschlag zu bringen, dann ist der Zeitpunkt, um sorgfältig zu prüfen, ob verschärfte Massnahmen ergriffen werden müssen. 

Momentan gibt es von meiner Seite her aber noch keinen Grund zur Aufregung. Wichtig ist, die verschiedenen Indikatoren sehr gut zu beobachten, damit sofort reagiert werden kann, sollte die Situation aus dem Ruder laufen.

Reicht die bisherige Strategie aus, um eine vierte Welle zu verhindern?

Die Fallzahlen allein genügen nicht, um von einer möglichen vierten Welle zu sprechen. Wenn ich nur die Fallzahlen anschaue, dann zeigt die Tendenz Richtung vierter Welle. Diese Tendenz wird unterstützt von der Reproduktionsrate, die momentan fast überall in der Schweiz höher als 1 liegt, und wir somit in einer Phase des exponentiellen Wachstums liegen. Das Hauptziel in der Schweiz und in vielen anderen Ländern ist nach wie vor, dass das Gesundheitssystem nicht an den Anschlag kommen darf.

Abermals: Die Fallzahlen genügen bei weitem nicht als einziger Indikator. Wenn die steigenden Fallzahlen vor allem die jüngsten Altersgruppen betreffen und die älteren und verletzlicheren Bevölkerungsgruppen schon gut mit einer Doppelimpfung geschützt sind, dann besteht kein grosses Risiko einer nächsten Welle von schweren Krankheitsverläufen, Hospitalisierungen und Übersterblichkeit. Also: Wir dürfen nicht nur aufgrund der Fallzahlen eine Welle charakterisieren. Verschiedene Indikatoren müssen gemeinsam betrachtet werden und wie ein Frühwarnsystem benutzt werden, für allfällige Massnahmen.

Darf man sich auf die niedrige Zahl der Hospitalisationen verlassen? 

Die Zahlen, welche vorgestern Dienstag in der Schweiz präsentiert wurden, zeigen auf, dass momentan lediglich 4 Prozent der Intensivbetten mit Covid-19 Patienten belegt sind. Im Vergleich zum letzten Jahr haben wir bessere Überwachungssysteme und fast die Hälfte der Schweizer Bevölkerung ist vollständig geimpft. Die Fallzahlen sind wichtig und auch die Reproduktionsrate, die zurzeit über dem kritischen Wert 1 liegt. Glücklicherweise spielt uns nun aber in die Karten, dass insbesondere in den Risikogruppen – also Menschen über 70 oder 80 Jahren und älter und Personen mit Vorerkrankungen – bereits eine hohe Durchimpfung besteht. Allerdings sind nach wie vor nicht alle diese Menschen geimpft.

Weiterhin müssen wir gut auf die Infektionszahlen schauen – und natürlich ist es sinnvoll, das Infektionsgeschehen so tief wie möglich zu halten. So wird nämlich auch das Risiko, dass neue Varianten entstehen und sich ausbreiten, stark eingeschränkt. Es ist durchaus plausibel, dass weitere und eventuell noch ansteckendere Virus-Varianten auftreten, und es gilt, die Wirksamkeit der bestehenden Impfstoffe auf diese Varianten zu erheben. Abermals gilt: Wir müssen den Gesamtkomplex im Auge behalten. Und das können wir inzwischen recht gut. Wir haben die nötigen Instrumente dazu. Es gilt, kontinuierlich alle Faktoren zusammenzutragen als Entscheidungsgrundlage der begleitenden Massnahmen.

Was ist von der Idee einer Impfpflicht für das Pflegepersonal zu halten?

Ein Impfobligatorium gibt es bei uns in der Schweiz nicht, egal um welche Berufsgruppe es sich handelt. Somit gibt es keine Grundlage, beim Pflegepersonal ein Impfobligatorium einzufordern. Ich bin der festen Überzeugung, dass es Wege gibt, um mit den richtigen Informationen, eine faktenbasierte Abwägung über Nutzen und Kosten die Leute zu motivieren, sich und ihre Mitmenschen mit einer Impfung wirksam schützen zu können.

Und wie steht es mit Forderungen, die Nutzung des Covid-Zertifikats auszuweiten?

Dass das Impfzertifikat – also nachweislich vollgeimpft, genesen oder negativ getestet – ausgeweitet werden kann und soll, steht für mich ausser Frage. Zum Beispiel bei Sportveranstaltungen oder beim Restaurant-Besuch. Gerade in der Gastrobranche kann ich mir gut vorstellen, dass ein Unternehmen sagt: Hier darf nur essen, wer ein Zertifikat vorlegt, denn der Kunde will ein Essen geniessen und sich dabei auch sicher fühlen.

Kritischer sehe ich das bei Betrieben und ich befürchte grosse bürokratische Aufwände und Schwierigkeiten bei der Durchführung und Kontrolle. In vielen Bereichen müssen die Leute zur Arbeit kommen. Da liegt es klar in der Verantwortung der Betriebe, wie sie das handhaben und das sollte mit der Belegschaft diskutiert und muss klar kommuniziert werden. Ein gesundes Mass an Eigenverantwortung scheint mir zielführend.

Ist zu befürchten, dass eine mögliche vierte Welle zuerst die Ungeimpften und dann einen Teil der Geimpften trifft?

Ich betrachte dieses Risiko in der Schweiz, wo man bislang ausschliesslich mit den zwei zugelassenen mRNA-Impfstoffen arbeitet, als relativ gering. Die beiden Impfstoffe haben eine gute Wirksamkeit, auch gegen die nun dominante Delta-Variante, und schützen insbesondere sehr gut vor schweren Krankheitsverläufen.

Es ist nicht auszuschliessen, dass es zu weiteren Varianten kommt, wo der Impfschutz eventuell geringer ist. Tatsache ist, dass wir in der Schweiz zwei sichere und hochwirksame Impfstoffe verwenden und diese in genügender Quantität vorhanden sind, dass sich alle, die wollen, impfen lassen können, und zwar gratis und franko. Nutzen wird dieses Angebot und tragen dazu bei, die Pandemie so schnell wie möglich einzudämmen.

Was müsste der Westen in der Pandemie für Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen tun? 

Das ist eine wichtige Frage und sie liegt mir sehr am Herzen. Leider haben wir in den vergangenen eineinhalb Jahren immer wieder gesehen, dass wir uns in dieser Pandemie viel zu stark auf uns selbst, auf unsere Region und auf unser Land konzentriert haben. Während vieler Wochen und Monate wurde moniert: ‹Wann kommt endlich die Impfung!?› Jetzt sind wir beispielsweise in der Schweiz in der unglaublich privilegierten Lage, dass genug Impfstoff für all diejenigen da ist, die sich impfen lassen wollen und doch nutzen nicht alle diese Möglichkeit.

In Afrika und in vielen anderen Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen ist der Impfstoff – ein globales öffentliches Gut – aber noch nicht einmal angekommen. Es muss alles daran gesetzt werden, etwa durch die Covax-Initiative, dass Länder mit zu wenig Impfstoff versorgt werden, so dass die Risikogruppen so schnell wie möglich geimpft werden können. Eine schnelle, faire und gerechte Verteilung ist zentral. Covid-19 ist ein globales Problem. Wir bekommen diese Pandemie nur in den Griff, wenn wir das Problem auf der ganzen Welt lösen – gemeinsam schaffen wir das!