Grenzgebiete und ExklavenWer sich alles schon der Schweiz anschliessen wollte – oder sollte
Von Philipp Dahm
5.11.2022
Ein Dorf in der Lombardei fordert den Anschluss ans Tessin. Der Vorgang ist kein Einzelfall: Neben Italienern wollten auch schon Österreicher und Deutsche Schweizer werden.
Von Philipp Dahm
05.11.2022, 10:48
Philipp Dahm
Weil es die Regierung in der Lombardei nicht schafft, das kleine Dorf Monteviasco wieder ans Verkehrsnetz anzuschliessen, fordern die Bewohner einen Anschluss ans Tessin. «Das erscheint uns mittlerweile als einzige Möglichkeit, die Seilbahn wieder in Betrieb zu nehmen», schreiben sie in einem offenen Brief.
Wie ernst das Ganze gemeint ist, sei dahingestellt. Fakt ist, dass es nicht das erste Mal ist, dass sich ausländische Orte um eine Aufnahme in die Eidgenossenschaft bemühen. Mal wird die Idee mit einem Augenzwinkern vorgetragen, mal geht es um praktische Gründe, doch es gab auch sehr ernst gemeinte Vorstösse. Hier eine Übersicht.
Voralberg
Am 11. November 1918 endet der Erste Weltkrieg – und die Zukunft Österreich-Ungarns ist ungewiss. Das Kronland Vorarlberg erklärt sich nach dem Waffenstillstand für unabhängig: Viele wollen sich der Schweiz anschliessen, die mit dem Vorarlberg die alemannische Prägung teilt.
Eine Volksabstimmung wird vorbereitet und am 11. Mai durchgeführt. Die Frage lautet: «Wünscht das Vorarlberger Volk, dass der Landesrat der Schweizer Bundesregierung die Absicht des Vorarlberger Volkes, in die Schweizerische Eidgenossenschaft einzutreten, bekannt gebe und mit der Bundesregierung in Verhandlungen trete?»
Die Gegner des Ansinnens wollen eine Anbindung an Deutschland – und prägen den Begriff des «Kanton Übrig», der in der Eidgenossenschaft unerwünscht sei. Sie kommen beim Urnengang aber nur auf 19 Prozent. Dass es mit dem Beitritt doch nicht klappt, hat mehrere Gründe.
Auf Schweizer Seite dürften die französischen und italienischen Landesteile keine Freude an noch mehr Deutschsprachigen haben, während auch die protestantischen Kantone dem katholischen Kandidaten skeptisch gegenüberstehen. Letztlich schafft vier Monate später der Vertrag von Saint-Germain Tatsachen, aus dem die Republik Österreich hervorgeht.
Campione d’Italia
Wer in Lugano die Promenade entlang schlendert, blickt auf der anderen Seite des Luganersees auf ein kleines Stück Italien. Dort gehört Campione d’Italia hin, seit es im Jahr 777 einem Kloster in Mailand zugeschlagen wird.
Gut 1000 Jahre später mischt Napoleon Bonaparte Europa auf: Er weist das Gebiet 1797 der von ihm neu gegründeten Cisalpinischen Republik zu. Ein Jahr später erhebt er das Tessin, das zuvor Untertanengebiet der Innerschweiz gewesen ist, zu einem gleichwertigen eidgenössischen Kanton.
Schon im Jahr 1800 versucht das Tessin erfolglos, Campione auf seine Seite zu holen. Eine neue Gelegenheit bietet sich, nachdem die Befreiungskriege im Sturz Napoleons münden und die Karten in Europa auf dem Wiener Kongress neu gezeichnet werden.
1814/1815 wird ein Tausch gegen das Dorf Indemini an der italienischen Grenze angeboten, doch nicht zuletzt wegen des Widerstands der «abgelegensten Gemeinde der Schweiz» scheitert der Vorstoss. 1861 entsteht das Königreich Italien, die Grenzen zwischen Campione und dem Tessin werden bereinigt – und Benito Mussolini verpasst dem Ort 1933 den Zusatz «d'Italia».
Ganz vom Tisch ist das Thema damit aber nicht. Zwar geht es Campione zwischen 1917 und 2015 sehr gut, weil ein Casino die Einnahmen sprudeln lässt, doch nach der Aufhebung des Euro-Mindestkurses durch die Schweizerische Nationalbank geht es bergab.
Nachdem 2018 das Casino pleitegeht, fordert eine Petition den Beitritt zur Schweiz, die jedoch nicht genug Unterstützer findet. Auch ein Angebot des Tessiner Lega-Regierungsrats Norman Gobbi, die Gemeinde einzuschweizern, stösst 2019 auf taube Ohren.
Büsingen
Die zweite Exklave, die es in der Schweiz gibt, ist Büsingen. Ab 1465 ist der Ort österreichisch. Dass das Gebiet nicht zur Schweiz gehört, ist einem Streit aus dem Jahr 1693 gestundet: Der Lehnsherr wird nach einem Religionsstreit von der eigenen Familie nach Schaffhausen entführt.
Dort wird jener Eberhard im Thurn dann den Behörden übergeben, die ihn in den Kerker werfen und hinrichten wollen. Das wiederum kann Österreich nicht auf sich sitzen lassen. 1694 wird die Ausfuhr von Getreide in die Schweiz verboten und drei Jahre später sogar Truppen an die Grenze verlegt. Erst 1699 wird der Lehnsherr freigelassen.
1770 verkauft Österreich seine Rechte an den Dörfern Ramsen und Dörflingen an den Kanton Zürich, doch Büsingen behalten die Habsburger. Erst Napoleon setzt ihrer Herrschaft ein Ende und schlägt den Ort 1805 erst dem verbündeten deutschen Staat Württemberg zu, bevor es 1810 an Baden kommt, das im Deutschen Reich aufgeht.
Nach dem Ersten Weltkrieg sprechen sich 1918 satte 96 Prozent der Bürgerinnen für einen Anschluss an die Schweiz aus, aber weil es kein Ausgleichsgebiet gibt, wird aus der Angliederung nichts. 1956 wird in der Sache erneut verhandelt, doch der Landkreis Konstanz wehrt sich nicht nur, sondern fordert auch noch einen verbindenden Korridor durch Schweizer Gebiet. Die Verhandlungen scheitern.
Veltlin
Das Veltlin ist ein Tal am Fluss Adda an der Grenze zwischen Italien und der Schweiz. Es wechselt die Besitzer immer wieder: 1335 fällt das Gebiet an das Herzogtum Mailand, dem die Eidgenossen die Talschaft in den Mailänderkriegen 1512 abnehmen.
Der Bündner Herrschaft wiederum setzt Napoleon 1797 ein Ende: Die Cisalpinische Republik übernimmt, bis diese 1815 vom österreichischen Kaiser abgelöst wird. Dabei wird immer wieder diskutiert, das Veltlin erneut Graubünden anzuschliessen – aber nur als gleichberechtigter Landesteil oder eigener Kanton.
Auf Bündner Seite gibt es aber Vorbehalte, das italienischsprachige, katholische Land könnte das Gefüge Graubündens stören. Letztlich will Wien das Gebiet auch gar nicht abtreten. 1859 übernimmt Sardinien-Piemont das Sagen, das zwei Jahre später im Königreich Italien aufgeht.