Kulturelle Aneignung Dürfen Weisse noch Dreadlocks tragen?

Von Herbert Aichinger

29.7.2022

Dürfen weisse Schweizer Dreadlocks tragen? Das sagt der Dreadlocks-Stylist

Dürfen weisse Schweizer Dreadlocks tragen? Das sagt der Dreadlocks-Stylist

Die Debatte um kulturelle Aneignung rund um ein abgebrochenes Konzert der Schweizer Band «Lauwarm» in Bern tobt seit Tagen. Im Zentrum steht die Frage: Ist es ethisch und moralisch vertretbar, wenn weisse Schweizer Dreadlocks tragen? Ja, sagt der Zürcher Dreadlocks-Stylist Marc Mächler von Dreadlocks Artesanal. «Dreadlocks kommen bei verschiedenen Ethnien und Kulturen vor, sie entstehen auf natürliche Weise, wenn man sich nicht kämmt, darum ist es auch für Europäer okay Dreadlocks zu haben.» Zu ihm kommen Kunden mit ganz unterschiedlicher Herkunft und lassen sich vom Spezialisten neue Dreadlocks machen oder bestehende pflegen und reparieren. Das Thema kutlurelle Aneignung diskutiert Mächler auch mit seinen Kunden und stellt fest: « Meine farbigen Kunden finden es voll okay, wenn Weisse auch Dreadlocks tragen.»

29.07.2022

Hitzige Diskussion um Konzertabbruch in Bern: Dürfen Weisse noch Dreadlocks tragen oder ist das bereits ein Affront gegen unterdrückte Minderheiten?

Von Herbert Aichinger

Seit ein Konzertveranstalter in Bern den Auftritt der Band Lauwarm abgebrochen hat, weil Teile des Publikums Anstoss daran nahmen, dass weisse Musiker mit Dreadlocks Reggae spielten, kocht in ganz Europa die Diskussion um kulturelle Aneignung erneut hoch.

Doch viele Menschen haben bis heute nur eine ungefähre Vorstellung davon, was der Begriff der kulturellen Aneignung eigentlich bedeutet. blue News fasst die wichtigsten Fakten zusammen.

Was versteht man unter dem Begriff «Kulturelle Aneignung»?

Der Begriff der kulturellen Aneignung wurde bereits in den 1970er und 1980er Jahren geprägt – unter anderem von Dick Hebdige, der sich 1979 in seinem Buch «Subculture: The Meaning of Style» mit britischen Jugend-Subkulturen auseinandersetzte. So assimilierten damals bereits weisse Punks Aspekte aus der Reggae-Szene der People of Colour (PoC), um damit ihrem Widerstand gegen den britischen Nationalismus Ausdruck zu verleihen.

Heute verstehen wir unter kultureller Aneignung (engl. Cultural Appropriation), wenn Träger einer Kultur Merkmale der Identität einer anderen Kultur übernehmen. Problematisch wird das aber nur dann, wenn es sich dabei um kulturelle Aspekte einer Minderheit handelt, die sozial, politisch oder wirtschaftlich benachteiligt ist. Das ist zum Beispiel bei People of Colour oder den indigenen Bewohnern Amerikas oder Australiens der Fall, die seit Jahrhunderten Unterdrückung, Diffamierung, Ausgrenzung und Schikanen  aufgrund ihrer Herkunft hinnehmen müssen.

Wann ist kulturelle Aneignung ein ethisches Problem?

Kulturelle Aneignung setzt per definitionem auch voraus, dass kulturelle Elemente einer unterdrückten oder benachteiligten Minderheit von einer mächtigeren Gruppe ausgenutzt, missbraucht oder respektlos behandelt werden – wenn etwa westliche Konzerne von den kulturellen Errungenschaften einer unterdrückten Minderheit profitieren, wie beispielsweise bei der Vermarktung von Musik, Kunst oder Lebensmitteln.

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Dürfen Weisse jetzt keinen Blues und keinen Reggae mehr spielen?

Es gibt weisse Musiker, die ihre Karriere mit Blues, Rap oder Hip-Hop gemacht haben. Es gibt auch europäische Bands, die sich ganz dem Ska verschrieben haben. Viele von ihnen, wie etwa Eric Clapton oder Eminem, haben sich damit einen Weltruf erarbeitet. Hier stellt sich die Frage, inwieweit bei der Übernahme von musikalischen Stilelementen einer unterdrückten Minderheit tatsächlich Ausbeutung oder Geringschätzung vorliegt.

Insbesondere in der Pop-, Rock- und Jazzmusik arbeiten weisse Musiker und People of Colour oft eng zusammen, wie etwa in der Berliner Band Seeed, die ebenfalls Reggae- und Ska-Einflüsse verarbeitet. Selbst bei Klassikern wie Claude Debussy fällt eine eindeutige Einordnung schwer: Er griff respektvoll Elemente der balinesischen Gamelan-Musik auf, schrieb aber andererseits ein Klavierstück mit dem Titel «Golliwog’s Cake Walk», das sich zumindest im Titel in abwertender Weise auf PoCs bezieht.

Darf ich jetzt keine Dreadlocks mehr tragen?

Dreadlocks sind eine traditionelle Haartracht der jamaikanischen Rastafari. Bereits vor dem Konzertabbruch in Bern wurde eine junge Musikerin wegen ihrer Dreadlocks von Fridays for Future wieder ausgeladen. Auch hier sind die Meinungen unterschiedlich. So kann man der Band Lauwarm kaum vorwerfen, mit den Elementen anderer Kulturen respektlos umzugehen. «Unsere Musik hat nichts mit kultureller Aneignung zu tun, sondern mit Inspiration», schreiben die Musiker. 

Auch Carola Rackete, Kapitänin der Sea Watch 3, die Flüchtlinge aus dem Mittelmeer rettete, trägt Rasta-Locken. Hier fällt es schwer, im negativen Sinn von kultureller Aneignung zu sprechen. Das Tragen von Rasta-Locken kann auch die besondere Wertschätzung einer anderen Kultur ausdrücken.

Carola Rackete - Kapitänin der Sea Watch 3 und Menschenrechts-Aktivistin. 
Carola Rackete - Kapitänin der Sea Watch 3 und Menschenrechts-Aktivistin. 
KEYSTONE/DPA/David Young

Darf ich für meine Freunde noch asiatisch kochen?

Kochen ist eine Kulturtechnik, bei der eine Abgrenzung zur kulturellen Aneignung ähnlich schwerfällt wie in der Musik: Viele Gerichte gibt es in den verschiedensten Varianten in unterschiedlichen Regionen der Welt. Und Chinesen oder Thais kochen in Europa auch anders als zu Hause. Jeder kann also ohne Skrupel die Gerichte anderer Länder nachkochen. Problematisch wird es erst dann, wenn beispielsweise ein Unternehmen die Gerichte einer indigenen Minderheit vermarktet, ohne diese am Erfolg zu beteiligen.

Ein Dessert mit asiatischen Gewürzen und Kokosnuss des Ressorts Bürgenstock am Vierwaldstättersee. 
Ein Dessert mit asiatischen Gewürzen und Kokosnuss des Ressorts Bürgenstock am Vierwaldstättersee. 
KEYSTONE/PPR/Carl F. Bucherer/Fabian Haefeli

Dürfen sich meine Kinder noch als Indianer verkleiden?

Kostüme anderer Kulturen bedienen sich meist der Vereinfachung und verfestigen Klischees – deshalb erweisen sie sich als problematisch. Auch das Bemalen des Gesichts mit schwarzer Farbe (Blackfacing) hat eine unrühmliche Tradition und verweist auf die Minstrel Shows des 19. Jahrhunderts, in denen People of Colour in der Regel abwertend dargestellt wurden.

Sind Indianerkostüme für Kinder bereits kulturelle Aneignung? 
Sind Indianerkostüme für Kinder bereits kulturelle Aneignung? 
KEYSTONE/ Peter Schneider

Darf ich überhaupt noch Fremdsprachen lernen?

Fremdsprachen lernen hat nichts mit kultureller Aneignung zu tun. Eine Fremdsprache ist in der Regel kein Merkmal einer unterdrückten Minderheit und dient ja vor allem einem Ziel: einer besseren Völkerverständigung.

Wann wird der Vorwurf der kulturellen Aneignung problematisch?

Der Vorwurf der kulturellen Aneignung ist nach wie vor oft unbegründet, weil ihn viele Menschen aussprechen, ohne sich in aller Ausführlichkeit mit der Komplexität des Begriffes auseinandergesetzt zu haben. Und genau hier liegt auch die Gefahr, bei aufgeschlossenen Menschen Sympathien zu verspielen.

Die europaweite Diskussion um die Konzertabsage von Bern regt sicherlich zum Nachdenken über die Thematik der kulturellen Aneignung an, weckt aber auch viel Widerspruch in der breiten Öffentlichkeit – etwa in der Form: «Jetzt darf man nicht mal mehr seine Meinung sagen!» Nun gilt es, auch bei diesen Menschen die Sensibilität für die komplexe Problematik der kulturellen Aneignung zu schärfen.

Ein Konzert der Schweizer Band Lauwarm in Bern wurde abgebrochen, nachdem Zuschauer*innen sich über angebliche kulturelle Aneignung beschwert hatten. Doch was steckt eigentlich hinter diesem Konzept?
Ein Konzert der Schweizer Band Lauwarm in Bern wurde abgebrochen, nachdem Zuschauer*innen sich über angebliche kulturelle Aneignung beschwert hatten. Doch was steckt eigentlich hinter diesem Konzept?
KEYSTONE