Prozess gegen Beamte «Fall Mike»: Staatsanwalt lässt Anklage gegen Polizisten fallen

SDA / tchs

19.6.2023 - 18:50

Der Fall «Mike» hatte in der Romandie Bestürzung ausgelöst. Im Oktober 2020 beteiligten sich rund 800 Menschen an einer Kundgebung in Lausanne gegen Polizeigewalt. (Archivbild)
Der Fall «Mike» hatte in der Romandie Bestürzung ausgelöst. Im Oktober 2020 beteiligten sich rund 800 Menschen an einer Kundgebung in Lausanne gegen Polizeigewalt. (Archivbild)
Bild: Keystone/JEAN-CHRISTOPHE BOTT

Überraschende Wendung im Prozess gegen sechs Lausanner Polizisten wegen fahrlässiger Tötung eines mutmasslichen Drogendealers: Die Waadtländer Staatsanwaltschaft lässt die Anklage fallen.

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  • Im sogenannten «Fall Mike» gegen sechs Lausanner Polizisten wurde die Anklage fallengelassen.
  • Sie wurden der fahrlässigen Tötung eines mutmasslichen Drogendealers im Jahr 2018 beschuldigt.
  • Der Anwalt der Familie des Opfers bezeichnet das Fallenlassen der Anklage als Schande.

Im Prozess gegen sechs Lausanner Polizisten wegen fahrlässiger Tötung eines mutmasslichen Drogendealers ist es am Montag zu einer überraschenden Wende gekommen. Die Waadtländer Staatsanwaltschaft lässt die Anklage gegen die Polizisten fallen.

Staatsanwalt Laurent Maye ist der Ansicht, dass die Beamten freizusprechen seien. In seiner Anklageschrift war er noch davon ausgegangen, dass diese durch Fahrlässigkeit den Tod von Mike Ben Peter in Lausanne im Jahr 2018 verursacht hatten.

In seinem Schlussplädoyer am Montag liess er diese Anklage jedoch fallen. Seiner Ansicht nach gibt es keinen Kausalzusammenhang zwischen dem Festhalten des mutmasslichen Drogenhändlers in Bauchlage und den Todesursachen.

Gegen Vorsichtsregeln verstossen

Der Nigerianer hatte sich den Polizisten bei einer Drogenkontrolle widersetzt. Um den 39-jährigen in Schach zu halten, schlugen die Polizisten ihn und setzten Pfefferspray ein, bevor sie ihn überwältigten und auf den Bauch legten. Der Mann starb am nächsten Tag an einem Herz-Kreislauf-Stillstand, nachdem er vor Ort notversorgt und anschliessend ins Universitätsspital Chuv in Lausanne gebracht worden war.

Laut Staatsanwalt Maye haben die Polizisten «gegen die Vorsichtsregeln» des Schweizer Polizeihandbuchs verstossen, als sie Mike Ben Peter nach dem Anlegen der Handschellen dauerhaft auf dem Bauch fixierten. Es werde gelehrt, die Position schnell zu ändern. Doch laut den Funkmeldungen blieb Mike Ben Peter drei Minuten lang auf dem Bauch liegen, bevor er das Bewusstsein verlor.

Es sei jedoch unmöglich zu sagen, dass die Bauchlage den Tod verursacht habe, so der Staatsanwalt. Um dies zu bestätigen, berief er sich auf die gerichtsmedizinischen Gutachten. Diese konnten die Gründe für den Herz- und Atemstillstand nicht mit endgültiger Sicherheit feststellen, sein Tod wurde durch «multifaktorielle» Ursachen erklärt.

Aufgrund des Fehlens dieses Kausalzusammenhangs zwischen der Verletzung von Vorsichtsregeln und den Todesursachen kam Maye zum Schluss, dass die Polizisten nicht verurteilt werden können.

Staatsanwaltschaft scharf kritisiert

Der Anwalt der Familie des Opfers, Simon Ntah, sagte, es sei eine Schande, dass er als «Helfer der Justiz» eine solche Argumentation hören müsse. «Die Argumentation der Staatsanwaltschaft ist falsch», kritisierte er.

Man müsse sich nicht nur auf das Festhalten in Bauchlage konzentrieren, sondern auf das gesamte Eingreifen der Polizei. Die Festnahme sei «einem Exzess der Gewalt» gleichgekommen – mit Schlägen in den Schritt und auf die Rippen, dem Einsatz von Pfefferspray, Arm- und Beinschlüsseln und dem Festhalten in Bauchlage.

«Man schlägt zuerst zu und denkt dann nach», beschrieb er den Einsatz. Die Polizei habe «unverhältnismässig» gehandelt. Die Polizisten hätten nicht nur «alle Sorgfaltspflichten verletzt», sondern es auch «versäumt, Menschlichkeit zu zeigen», als sie Mike Ben Peter weiterhin am Boden festhielten, obwohl sich dieser im Todeskampf befunden habe, hielt er fest.

Ntah forderte das Lausanner Strafgericht auf, die Polizisten zu verurteilen, damit «Mike Gerechtigkeit widerfahre», er nicht «in der Gleichgültigkeit der Justiz gestorben» sei und seine Familie versuchen könne, «das Unakzeptable zu akzeptieren».

Freispruch gefordert

Die Anwälte der Polizisten legten ihren Schwerpunkt wie die Staatsanwaltschaft auf die gerichtsmedizinischen Gutachten. Diese zeigten klar, dass der Tod von Mike Ben Peter nicht auf das Handeln der Polizisten zurückzuführen sei, sagte Odile Pelet.

Die Beamten seien angesichts einer «besonders oppositionellen und virulenten» Person «schrittweise und verhältnismässig» vorgegangen, sagte Xavier de Haller. Sie hätten alle zu Verfügung stehenden Mittel eingesetzt, so wie sie es in ihrer Ausbildung gelernt hätten.

Die Polizisten hätten «ihre Arbeit korrekt gemacht, ohne einen Fehler zu begehen», sagte Juliette Perrin. Der Tod von George Floyd in den USA, den Anwalt Ntah erwähnte, habe nichts mit diesem Fall zu tun.

Raphaël Brochellaz kritisierte seinerseits «den falschen Eindruck, der durch die Anklageschrift vermittelt und von der Presse weitergegeben worden sei, dass sechs Polizisten auf Mike Ben Peter «losgegangen» seien.

Die Polizisten hätten auch nicht aufgrund eines «rassistischen Vorurteils» gehandelt, sondern aufgrund der «Feststellung einer laufenden Straftat» des Strassendeals, stellte Christian Favre fest. Dieser Fall «kann nicht anders als mit einem Freispruch enden», schloss Jean-Emmanuel Rossel.

Das Gericht verkündet sein Urteil am Donnerstag.