Arzt von «Carlos»«So etwas habe ich noch nie erlebt»
Von Jennifer Furer
26.8.2020
Vor dem Bezirksgericht Zürich müssen sich heute drei Ärzte des Jugendstraftäters «Carlos» verantworten. Vor Gericht rechtfertigten sie die 13-tägige Fixierung des damals 15-Jährigen.
«Er befindet sich jetzt in Zimmer 40», sagte der vorsitzende Richter des Bezirksgerichts Zürich Sebastian Aeppli. Mit «er» ist der Jugendstraftäter «Carlos», der Brian heisst und auch so genannt werden will, gemeint. Für einmal sass er nicht als Beschuldigter, sondern als mutmasslicher Beschädigter vor Gericht.
Im Jahr 2011 sollen drei Psychiater den damals 15-Jährigen in der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich (PUK) mit einer sogenannten «7-Punkte-Fixierung» festgebunden und mit acht Medikamenten «stark sediert» haben, wie es die Anklage ihnen vorwirft.
Brian wäre gerne im Gerichtssaal anwesend gewesen, anstatt die Verhandlung per Videoübertragung im Beisein von vier Polizisten mitzuverfolgen. Einen entsprechenden Antrag wies Aeppli aber wegen der Coronasituation zurück. «Es hat schlicht keinen Platz mehr im Saal», sagte er.
Trotzanfall in Isolierzelle
Der 1,5-Meter-Abstand war denn nun auch nur knapp gegeben, als die Beschuldigten zur Befragung in der Mitte des Saals mit direktem Blick zum vorsitzenden Richter an einem Tisch Platz nehmen mussten.
Der hauptbeschuldigte Arzt, der inzwischen in Deutschland arbeitet, wies jegliche Schuld von sich. «Die Fixierung über 13 Tage war notwendig und gerechtfertigt, weil von einer anhaltenden Selbst- und Fremdgefährdung ausgegangen werden musste», sagte der Mann mit grauweissen Haaren, Brille und blauem Blazer, der darauf pochte, Hochdeutsch zu sprechen, obwohl er das Schweizerdeutsch einwandfrei beherrscht.
Der Hauptbeschuldigte sagte, dass die Isolationszelle nicht infrage gekommen sei, weil Brian eine solche in der Vergangenheit bei einem «Trotzanfall» bereits demoliert habe. «Er hat auf die Tür eingewirkt», sagte der Psychiater. Das sei gefährlich. «Wenn sie sich verkantet, kann man von aussen nicht mehr rein.»
«Die Luft war zum Teil zum Schneiden dick»
Brian habe schliesslich von einem Einsatzkommando der Polizei überwältigt und fixiert werden müssen. «Eine Isolation kam deshalb auf keinen Fall ein zweites Mal infrage», so der Hauptbeschuldigte.
Auch stärkere Medikamente seien keine Alternative gewesen. «Eine höhere Dosierung hätte schwerwiegende Nebenwirkungen zur Folge gehabt», so der Arzt. Dieser betonte, dass Brian ein «aussergewöhnlicher Patient» gewesen sei, bei dem es unmöglich gewesen sei, ein Arbeitsbündnis herzustellen.
Der Psychiater sieht als Ursache dafür eine Hirnschädigung. «Diese ist für eine langanhaltende Unberechenbarkeit und Gefährlichkeit des Patienten verantwortlich», so der Psychiater. «Die Luft war zum Teil zum Schneiden dick.»
Keine passende Infrastruktur
Brian habe den Hauptbeschuldigten bedroht, bespuckt und beleidigt, fügte der Arzt bei seiner Befragung an. Er sei deshalb von einer massiven Fremdgefährdung ausgegangen – auch, weil die Staatsanwaltschaft ihm mitgeteilt hat, dass Brian sich wegen eines Tötungsversuchs in Untersuchungshaft befindet.
Die zwei weiteren Ärzte, die sich wegen der Fixierung vor Gericht verantworten mussten, stützten die Aussagen ihres Kollegen. Sie waren als Vorgesetzte laut der Staatsanwaltschaft für die Freiheitsberaubung mitverantwortlich.
Der ehemalige stellvertretende Klinikleiter und heute Professor und Mitglied der Geschäftsleitung sagte: «Die Infrastruktur in der PUK war nicht ausgerichtet auf das Sicherheitsbedürfnis eines forensischen Patienten.» Man habe zwischen verschiedenen Massnahmen abwägen müssen, die Fixierung mit der medikamentösen Behandlung sei unter den vorherrschenden Umständen der beste Weg gewesen. «Die Entscheidung war korrekt», sagte der Psychiater.
Auch der dritte Beschuldigte betonte: «Wir können nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass es im Kanton Zürich zu wenig geschützte Plätze gibt.» Zudem sei die Situation auch für die Psychiater neu gewesen. «Ich habe so etwas in meiner 40-jährigen Tätigkeit noch nie erlebt.»
Nach der Befragung der Ärzte folgen die Plädoyers. «Bluewin» wird im Verlauf des Nachmittags darüber berichten.
Darum geht es
Drei Psychiater des Jugendstraftäters «Carlos», der Brian heisst und auch so genannt werden möchte, müssen sich heute Mittwoch vor dem Bezirksgericht Zürich verantworten. Sie sollen 2011 den damals 15-Jährigen in der psychiatrischen Universitätsklinik PUK in Zürich, im Volksmund auch «Burghölzli» genannt, 13 Tage lang festgebunden haben.
Brian ist laut Anklage mit Gurten fixiert und mit acht Medikamenten «stark sediert» worden. Er soll sich in einer «absoluten Bewegungslosigkeit» befunden haben.
Die Massnahme sei vom Hauptbeschuldigten verordnet und von zwei weiteren Ärzten, darunter ein Vorgesetzter, gestützt worden. Auch diese müssen sich am Mittwoch vor dem Bezirksgericht Zürich verantworten.