Graubünden«Schon heute muss man jederzeit mit einem Wolf rechnen»
Von Gil Bieler
11.6.2020
Der Wolf hält Graubünden in Atem. Die Regierung will nun Grossraubtiere besser überwachen. Bauern und Umweltschützer begrüssen das – sie haben aber schon die Abstimmung über das Jagdgesetz im Blick.
Der Wolf ist in Graubünden auf dem Vormarsch. In letzter Zeit gab es gemäss Kantonsregierung merklich mehr Sichtungen und Vorfälle mit Wölfen als in anderen Jahren. Für die Landwirte ist das ein grosses Ärgernis: Sie meldeten seit März bereits mehr als 40 Fälle, in denen Nutztiere gerissen wurden. 15 der Tiere waren mit Elektrozäunen oder Hunden geschützt, doch die Wölfe hatten dennoch einen Weg gefunden.
Die Kantonsregierung setzt nun auf ein neues Informationssystem, um die Aktivitäten von Grossraubtieren zu überwachen. Damit sollen Nutztierhalter rascher gewarnt werden können, teilt sie heute Donnerstag mit.
Seit Anfang Juni erfassen Wildhüter Sichtungen und Risse mittels einer App. Auf einer Website werden alle Beobachtungen nach Tierart und mit den jeweiligen Daten auch für die Bevölkerung sichtbar gemacht. Neben Wolf und Bär werden auch Luchs, Goldschakal und Wildkatzen überwacht.
Peter Marugg, Vorstandsmitglied des Bündner Bauernverbands, ist froh über das neue Informationssystem. «Es ist wichtig, dass die Bevölkerung sieht, was mit dem Wolf abgeht», sagt er auf Anfrage von «Bluewin». «Sonst heisst es immer, die Bauern würden nur Lärm machen.» Doch viele Landwirte seien mit ihrer Geduld am Ende, und er selbst sehe die Möglichkeiten des Herdenschutzes als ausgeschöpft an.
Marugg hofft, dass das Stimmvolk die Revision des eidgenössischen Jagdgesetzes am 27. September annimmt und so der Abschuss des Wolfes erleichtert wird. «Wenn man nicht handelt, dann wird es immer mehr Rudel geben, und dann artet die Situation aus.» Das neue Jagdgesetz würde der Bündner Regierung mehr Spielraum geben, den Wolfsbestand zu regulieren.
Regierung hofft auf «gezielte Regulation»
Auch die Bündner Regierung hofft auf ein Ja zum revidierten Jagdgesetz. «Sollen sich die drei Nutzergruppen Landwirtschaft, Tourismus und Grossraubtiere den Alpenraum möglichst konfliktlos teilen können, sind allseits Einschränkungen nötig», erklärt der für Landwirtschaft zuständige Regierungsrat Marcus Caduff auf Anfrage. Und ein solches Miteinander sei «ohne konsequente und gezielte Regulation der Wolfspopulation nicht möglich», so der Vorsteher des Departements für Volkswirtschaft und Soziales.
Die Landwirtschaft müsse aber den Herdenschutz optimieren und weiterentwickeln, und auch der Tourismus müsse seinerseits geeignete Massnahmen zur Sicherheit der Gäste ergreifen.
Das neue Jagdgesetz sieht vor, dass Wolf und Steinbock zur «regulierbaren, geschützten Art» erklärt werden: Sie könnten von den Kantonen vorsorglich zur Jagd freigegeben werden – sogar noch, bevor sie überhaupt Schäden angerichtet haben. Naturschutzgruppen wie Pro Natura, WWF und die Gruppe Wolf Schweiz sind klar gegen diese Pläne und haben erfolgreich das Referendum ergriffen.
«Auf Vorrat» schiessen?
«Das neue Jagdgesetz schiesst weit über das Ziel hinaus», sagt Sara Wehrli, Verantwortliche für Jagdpolitik bei Pro Natura, auf Anfrage. Es sei sehr problematisch, wenn geschützte Arten «auf Vorrat» geschossen werden könnten – also bevor sie überhaupt Schäden verursacht hätten. Ausserdem könnten künftig die Kantone in Eigenregie über einen Abschuss entscheiden, weswegen ein Flickenteppich drohe. Und der Bund könnte auch den Schutz weiterer Arten wie Luchs oder Biber jederzeit lockern.
Dass das neue Informationssystem in Graubünden nun den Wolfsgegnern in die Hände spielen könnte, glaubt Wehrli nicht: «Die Bündner Regierung hat schon in den letzten Jahren sehr transparent über die Aktivitäten des Wolfes informiert.» Für Nutztierhalter könnte die interaktive Karte jedoch tatsächlich einen besseren Überblick bieten.
Wobei sich Wehrli fragt, wie gross der Informationsgehalt tatsächlich ist. «Schon heute muss man in Graubünden jederzeit und überall mit dem Auftauchen eines Wolfes rechnen.» Sie versteht deshalb nicht, wie einige Bauern ihre Tiere weiterhin ungeschützt oder nur mit unzulänglichem Schutz – etwa nicht elektrifizierten Zäunen – sömmern lassen könnten. «Das bringt die Wölfe erst recht auf den Geschmack, und diese Bauern schaden damit ihren Kollegen.»
Aggressivere Mutterkühe
«Übergriffe können auch mit Herdenschutz nicht ausgeschlossen werden», hält Regierungsrat Marcus Caduff fest. Insbesondere bei der Rinderhaltung sei die Integration von Schutzhunden in die Herde schwierig. Er spricht damit ein neues Problem an, das Landwirte in der von Wolfsrissen besonders betroffenen Region Surselva beklagen: ein verändertes Verhalten bei Mutterkühen.
Wölfe reissen normalerweise Schafe und Ziegen. Aber auch Tiere in Mutterkuhherden wirkten mittlerweile angespannter, in einzelnen Fällen seien verängstigte Tiere aus ihrem Gehege ausgebrochen. Die Bündner Regierung vermutet, dass auch dies auf die erhöhte Präsenz des Wolfes zurückzuführen sei.
«Direkte Angriffe auf Grossviehherden sind eher selten und somit auch nicht das Hauptproblem», erklärt Caduff. Problematisch sei jedoch, dass das Grossvieh den Wolf wittere und auch ohne eigentlichen Angriff ein aggressives Verhalten annehmen könne. Dadurch könnte auch die Sicherheit von Hirten, Tierhaltern, Touristen oder Freizeitsportlern gefährdet werden.
Dass die Anwesenheit des Wolfes das Problem mit aggressiven Mutterkühen verschärft, kann Marugg, der beim Bündner Bauernverband für die Mutterkuhhaltung zuständig ist, bestätigen. Er nimmt aber auch Wanderer in die Pflicht: «Viele sehen ein herziges Kalb und nähern sich ihm einfach, ohne zu überlegen. Dabei liegt es im Mutterinstinkt der Kühe, ihre Kälber zu verteidigen.»
Der Kanton Graubünden lässt nun durch den Bund abklären, wie dieses Abwehrverhalten das Alppersonal, Passanten und Wanderer gefährdet. Auch müssten Verhaltensempfehlungen und Checklisten überprüft werden.
Eines steht jetzt schon fest: Der Wolf wird weiterhin zu reden geben. In der Wandersaison. Und vor der Volksabstimmung im September. Gefragt, ob sie glaubt, die Umweltschützer könnten den Urnengang gewinnen, sagt Sara Wehrli von Pro Natura: «Ich bin verhalten optimistisch.»