Politologe über Blocher «Der Generationenwechsel bei der SVP ist mehr als überfällig»

Von Anna Kappeler

9.10.2020

Alt Bundesrat Christoph Blocher beim Wahlauftakt der SVP Schweiz vom Samstag, 31. August 2019, in Sattel.
Alt Bundesrat Christoph Blocher beim Wahlauftakt der SVP Schweiz vom Samstag, 31. August 2019, in Sattel.
Bild: Keystone

Christoph Blocher kündigt kurz vor seinem 80. Geburtstag an, kürzertreten zu wollen. Höchste Zeit, findet Politologe Adrian Vatter. Und erklärt, warum niemand in der SVP Blochers politisches Erbe weiterführen kann.

Herr Vatter, zwei Tage vor seinem 80. Geburtstag kündigt Christoph Blocher an, dass seine Kräfte nachliessen und er kürzertreten wolle. Überrascht Sie der Zeitpunkt?

Nein. Christoph Blocher ist zwar ein Animal Politique. Aber es ist aus Altersgründen gut nachvollziehbar, dass er sich nun mit 80 Jahren verstärkt aus dem hektischen Politikbetrieb zurückziehen will. Zudem ist der Generationenwechsel bei der SVP mehr als überfällig.

Blocher ist einer der wenigen Politiker, den fast jedes Kind landesweit kennt. Wie kommt’s?

Blocher ist die prägendste Figur in der Schweiz seit Anfang der 1990er-Jahre. Sein Aufstieg fällt zusammen mit einer neuen Phase: das Ende des Kalten Krieges, aber auch ein Sichtbarwerden der Globalisierungsverlierer. Blocher ist der Vertreter einer sich abschottenden, konservativen Schweiz.

Was fehlte der Schweiz, hätte es den Politiker Blocher nicht gegeben?

Blocher hat unser Politiksystem stark geprägt. Und auch die SVP wäre ohne ihn kaum so erfolgreich geworden. In der EU-Politik hätte sich die Schweiz wohl in eine andere Richtung entwickelt. Das Eintreten für nationalkonservative und neoliberale Positionen wäre ohne Blocher nicht so erfolgreich geworden.

Blocher verbuchte mit dem EWR-Nein seinen grössten Sieg. Wie stark war sein Aufstieg dem damaligen Umfeld geschuldet?

Vor Blocher war die SVP im Umfeld des protestantischen Bürgertums in ländlichen Regionen anzusiedeln. In den 1990ern konnte die Partei erstmals in katholischen CVP-Stammlanden Stimmen holen. Das wäre ohne die Europa-Frage nicht möglich gewesen. Und: An Blochers Aufstieg sind auch die Medien wesentlich beteiligt. Es gibt keinen anderen Politiker, der so viel mediale Aufmerksamkeit erhalten hat wie Blocher. Diese Personalisierung der Medien wusste Blocher für sich geschickt zu nutzen.



Blocher ist aber auch charismatisch wie nur wenige Politiker. Was macht ihn rhetorisch so stark?

Blocher kann verschiedene Elemente auf sich vereinigen. Das macht ihn glaubwürdig und überzeugend.

Wie meinen Sie das?

Blocher kokettiert gerne damit, dass er ursprünglich eine Bauern-Lehre gemacht hat. Danach wurde er bekanntlich Unternehmer und verdiente sehr viel Geld. Durch seine Vergangenheit ist er sowohl beim national-konservativen Wählersegment aus bäuerlichem Umfeld glaubwürdig – wie auch bei der neoliberalen Wählerschaft. Letztere will eine möglichst starke Deregulierung und einen schwachen Sozialstaat, als ehemaliger Ems-Chemie-Chef ist Blocher auch da authentisch. Diese beiden Wählersegmente der SVP zu verbinden, ist ein fast unmöglicher Spagat – Blocher machte ihn lange Zeit scheinbar mühelos.

Bei seinen Versuchen, Ständerat zu werden, nützte ihm das nichts.

Das hängt mit dem Wahlsystem zusammen. Majorzwahlen setzen eingemittete Kandidierende voraus, die über die eigene Parteianhängerschaft gewählt werden.

«Der Versuch, eine Person wie Blocher im Bundesrat zu domestizieren, ging schief.»

Bitter in Blochers Politikkarriere war seine Abwahl aus dem Bundesrat 2007. Warum ging das nicht, Blocher im Bundesrat?

Der Versuch, eine Person wie Blocher im Bundesrat zu domestizieren, ging schief. Die Institution Bundesrat setzt voraus, dass sich die Mitglieder kollegial und kompromissbereit verhalten. Und die Mehrheitsentscheide gegen den eigenen Willen mittragen. Diese Erwartung der Vereinigten Bundesversammlung an Blocher wurde enttäuscht. Blocher ist im Herzen ein Partei- und Oppositionspolitiker geblieben. Das aber verträgt sich nur schlecht mit dem Kollegialsystem: Bundesrat Blocher war nicht systemkompatibel. Trotzdem war seine Nicht-Wiederwahl knapp.

Auch Bundesrat Ueli Maurer wandert auf diesem Grat …

Zur Person
ZvG

Adrian Vatter ist Direktor am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern und Inhaber der Professur für Schweizer Politik. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter «Das politische System der Schweiz» und «Der Ständerat» (Hg.).

Ja, Ueli Maurer spielt diese Klaviatur zwischen Regierung und Opposition sehr geschickt. Im Unterschied zu Blocher bewegt sich Maurer aber im Rahmen des Gerade-Noch-Erlaubten. Maurer verletzt das Kollegialitätsprinzip, er widerspricht Bundesratskollegen in der Öffentlichkeit – doch er entschuldigt sich danach jedes Mal umgehend. So gibt er zwar ein Signal an die eigene Wählerschaft, verhält sich danach aber wieder bundesratskonform.

Ist das eine Typenfrage oder hat Maurer hier von Blocher abgeschaut und gelernt?

Da spielt wohl beides mit hinein. Maurer hat den Prozess vom SVP-Einpeitscher zum staatsmännischen Bundesrat zwar auch nicht vollständig, aber doch ein gutes Stück weit gemacht.

Vier Jahre nach seiner Abwahl als Bundesrat kehrte Blocher in den Nationalrat zurück. Drei Jahre später dann der Rücktritt mit dem Satz: «Ich verschwende hier nur meine Zeit.» War das clever?

Clever oder nicht: Das ist Ausdruck der kritischen, manchmal auch despektierlichen Haltung der SVP gegenüber den politischen Institutionen. Von denen die SVP Teil ist. Die SVP versucht seit Jahren systematisch, die Institutionen in ihrem Sinne zu verändern. Ausdruck davon sind etwa die Maulkorb-Initiative, die «Volkswahl des Bundesrates», oder jüngst die Nicht-Wahlempfehlung des eigenen Bundesrichters. Das gehört – trotz Misserfolg an der Urne bzw. im Parlament – zur Programmatik der Partei.

Apropos Misserfolg: Die Partei musste 2019 Wahlverluste auf nationaler Ebene einstecken, sie verliert Volksabstimmungen inzwischen selbst in Kernthemen, und sie eierte bei der Parteipräsidenten-Suche herum. Wo klemmt’s?

Bei aller Kritik gilt es, festzuhalten: Die SVP ist noch immer die weitaus stärkste Partei dieses Landes. Sie hat verloren, ja, aber noch immer geht jede vierte Wählerstimme an die SVP. Damit ist sie enorm erfolgreich. Unter Blocher wurde die SVP von einer 10-Prozent- zu einer fast 30-Prozent-Partei. Jetzt liegt sie bei 25 Prozent. Das ist immer noch eine enorme Leistung.

Einverstanden. Das ändert nichts am Sinkflug.

Diese Verluste haben einen Grund: Die SVP hat ein Personalproblem. Die Nach-Blocher-Generation mit einem Thomas Aeschi oder auch einem Roger Köppel geniesst nicht annähernd die Glaubwürdigkeit, die Blocher bis heute hat.



Ist ein Übervater Blocher Fluch oder Segen für die Partei?

Momentan ist es ein Problem. Die Partei kann sich nicht vollständig von Blocher lösen. Die Konsequenz davon: Es kann sich keine neue Generation eigenständig etablieren. Hier kann man Blocher vorwerfen, dass er niemanden aufgebaut hat.

Schade für die SVP, dass sich Toni Brunner aus der Politik verabschiedet hat?

Ja. Doch selbst der leutselige Brunner hätte das neoliberale Wählerklientel nicht so mobilisieren können, wie das Blocher vermag.

«Diese Verluste haben einen Grund: Die SVP hat ein Personalproblem.»

Das bringt uns zur obligaten Frage: Wird Tochter Magdalena Martullo das Loch füllen?

Christoph Blocher hinterlässt sehr grosse Fussstapfen. Martullo wird nun wohl zur nächsten SVP-Bundesratskandidatin aufgebaut. Und doch: Sie hat nicht das Charisma ihres Vaters.

Gibt es ein*e SVPler, der/die Blochers politisches Erbe weiterführen kann?

Nein.

Wo also steht die SVP in zehn, 15 Jahren?

Ich bin weder Wahr- noch Wahlsager. Klar ist: Eine Partei der Globalisierungsverlierer wird es auch in 15 Jahren noch geben. Vermutlich wird das weiterhin die SVP sein. Auch wird sich rund ein Viertel der Wählenden weiterhin gegen Integration und gegen Veränderung durch Globalisierung zur Wehr setzen.

Hätte jemand wie Blocher heute überhaupt noch denselben Erfolg?

Ich würde sogar behaupten: Eine solche Person hätte es heute einfacher als Blocher damals. Kommt eine charismatische Persönlichkeit, die sich die Personalisierung und die Vereinfachung komplexer Sachverhalte zu eigen machen kann, hat sie Erfolg. Dennoch: In unserem System stehen weniger Personen im Vordergrund, wie man das bei einem Präsidialsystem aus Deutschland, Frankreich oder den USA kennt. Unser System basiert auf mehreren Köpfen. Ab und zu gibt es wie mit Blocher eine Ausnahme.

Transparenz: In einer früheren Version dieses Textes hiess es, Blocher ziehe sich komplett aus der Politik zurück. Das hatte Blocher hier angekündigt. Blocher hat dies inzwischen auf Blick.ch dementiert.

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