Vier Streitfälle, eine Meinung«Sie sollte das Kind einfach impfen lassen»
Von Philipp Dahm
2.11.2021
Impfung und Zertifikat sind immer wieder Gründe für Zwist: Was soll man etwa mit seinem Kind tun, wenn der Partner andere Ansichten zur Impfung hat? Zu dieser und drei weiteren Szenen gibt Experte Peter Schneider Rat.
Von Philipp Dahm
02.11.2021, 12:18
02.11.2021, 15:24
Philipp Dahm
Die Schweiz zeigt sich in der Pandemie alles andere als geeint. Hierzulande sind zum Beispiel erst gut 63 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft: Im europäischen Vergleich hinkt das Land hinterher. Und obwohl fast zwei Drittel geschützt sind, empfinden 79 Prozent das Covid-Zertifikat als einen indirekten Impfzwang.
Das sind Ergebnisse, die einerseits der 9. Corona-Monitor der SRG ergeben hat, und andererseits wohl auch den meisten von uns im Alltag begegnet sind. Grund genug, einen Experten mit vier Szenen zu konfrontieren, die aus dem Leben gegriffen sind: Wie soll man sich zum Beispiel verhalten, wenn man wegen eines ungeimpften Jassbruders nicht in die Stammbeiz gehen kann?
Peter Schneider ist dafür der richtige Ansprechpartner: Der 64-jährige Schweizer Psychoanalytiker lebt und arbeitet in Zürich, ist Autor mehrerer Fachbücher und schreibt regelmässig Kolumnen für den «Tages-Anzeiger» und die «Sonntags-Zeitung».
Peter Schneider
Bild: OTS . Bild Presse- & Medienball
«Musst du bald sterben?»
Eine Familie lebt getrennt: Er ist geimpft, sie nicht. Der Neunjährige bricht beim Vater in Tränen aus und fragt: «Musst du bald sterben, weil du geimpft worden bist?» Wie sollte der Vater reagieren?
Am besten erklärt er dem Kind, dass er nicht sterben wird, weil er geimpft wird, sondern dass er durch die Impfung seine Chance, nicht zu sterben, vergrössert hat. Darauf wird der Knabe sicher sagen: «Aber dann muss doch die Mama sterben.» Und schon ist die Scheisse wieder am Dampfen.
Kann man diesen Konflikt nicht auflösen?
Ich glaube nicht. Es sei denn, man sagt, es habe überhaupt keine Auswirkungen: Mit Lügen kommt man immer aus solchen Situationen heraus.
Die Jassrunde
Vier Freunde wollen sich zum Jassen treffen, aber weil einer kein Zertifikat hat, fällt der Ausflug ins Wasser, die Stammbeiz liegt flach. Was nun?
Das ist eine Abwägungssache. In die Stammbeiz kommt man derzeit ohne Zertifikat nicht und wenn man das Risiko eingehen will, trifft man sich halt zu Hause.
Lohnt es sich, mit dem ungeimpften Kollegen zu reden?
Das Ganze wird ja nun schon seit fast zwei Jahren diskutiert. Ich glaube nicht, dass man da noch was hinzufügen könnte, was nicht schon gesagt worden ist. Das kann man sich wahrscheinlich sparen.
Mutter vs. Vater
Eine Familie hat ein 14-jähriges Kind. Sie hat das Zertifikat, er misstraut der Impfung. Die Frau möchte das Kind gern impfen lassen. Wie geht sie vor?
Sie sollte es einfach impfen lassen. Mit 14 Jahren kann das Kind ja auch selbst entscheiden: Ab 12 Jahren kann man das selber bestimmen.
Haben Sie einen Tipp, wie das Paar trotz der Gegensätze den häuslichen Frieden bewahren kann?
Also wenn der häusliche Frieden auf solch absurden Sachen beruht, kann man ihn nicht bewahren, und es lohnt sich auch nicht, ihn zu bewahren.
Der Freundeskreis
Beim Treffen mit Freunden fängt einer an, zu erzählen, Impfung und Zertifikat seien bloss Werkzeuge der Unterdrückung. Ich habe viel darüber gelesen und bin gänzlich anderer Meinung. Beginne ich eine Diskussion?
Nö. Also man muss auch nicht wahnsinnig viel darüber gelesen haben: Wahrscheinlich hat jener Freund noch viel mehr darüber gelesen – und zwar irgendwelchen Scheiss. Wenn man das glaubt, glaubt man das halt.
Sind unsere Meinungen seit Beginn der Pandemie denn so gemacht, dass man nichts mehr daran ändern kann?
Wenn die auf die Art gemacht sind, kann man nichts mehr ändern, das ist wohl so. Wenn einer Vektor- und mRNA-Impfstoffe nicht auseinanderhalten kann oder wenn es um die Zulassung geht, kann man das alles googeln. Wenn das jemandem was bringt, ist das ja auch in Ordnung. Aber wenn man das bis heute nicht herausgefunden hat, ist es vielleicht auch zu spät. Es ist ja nicht so, dass diese Leute 50 Jahre lang auf einer südpazifischen Insel verbracht haben und nun aufgeklärt werden müssten.
Sollte man solche Gegensätze also auf sich beruhen lassen, wenn man auf sie trifft?
Ja. Und wenn man seine Nerven nicht strapazieren will, sollte man entweder dem Thema aus dem Weg gehen – oder den Leuten.