Der Schweiz fehlen «Third Places»Öffentliche Plätze gibt es viele – nur nicht für Jugendliche
Lea Oetiker
5.10.2024
Alle Menschen brauchen ausserhalb von Zuhause und Arbeit einen neutralen «dritten Ort», wo sie sich aufhalten und austauschen können. Jugendliche gehen oft vergessen. Dabei brauchen sie ihn am dringendsten.
Lea Oetiker
05.10.2024, 00:00
05.10.2024, 16:14
Lea Oetiker
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Jeder Mensch braucht nebst dem Zuhause und der Arbeit einen neutralen dritten Aufenthaltsort, oftmals sind es öffentliche Plätze.
Diese Plätze und Orte nennt man auch «Third Places», auf Deutsch dritte Orte.
Dabei kommen Jugendliche oftmals zu kurz. Ausgerechnet diese Gruppe, die sie besonders dringend brauchen würde.
Auf dem Sechseläutenplatz in der Stadt Zürich sitzt eine Gruppe Jugendlicher auf der Treppe vor dem Opernhaus. Sie hören Musik, quatschen miteinander und essen eine Packung Chips. Ein paar Treppenstufen weiter unten sitzen zwei junge Mädchen, eine trägt gerade Lipgloss auf. Sie scheinen nicht älter als 14 zu sein.
Der Sechseläutenplatz vor dem Opernhaus in Zürich ist ein beliebter Treffpunkt für Jung und Alt. Generell werden öffentliche Plätze für die Gesellschaft immer wichtiger. Grund dafür sind mehrere Faktoren. Unter anderem: Mit der Verdichtung in Städten werden öffentliche Räume wichtige Ausgleichsflächen für die Bevölkerung. Sie fungieren als zentrale Orte für Begegnungen und den Austausch zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen.
Plätze wie den Sechseläutenplatz nennt man auch einen «dritten Ort», auf Englisch «Third Place». Das Deutsche Zukunftsinstitut definiert den Begriff als «Räume der Begegnung»: Das können öffentliche Räume im Stadtraum sein, aber auch halböffentliche Orte wie Bahnhöfe, Bildungseinrichtungen, Sport- oder Kulturstätten. Und jeder Mensch braucht einen solchen dritten Ort.
Wichtig für die Demokratie und Zivilgesellschaft
Ursprünglich stammt das Third-Place-Konzept von dem amerikanischen Soziologen Ray Oldenburg. So nannte er die Orte ausserhalb der klassischen Lebensbereiche wie etwa das Zuhause und den Arbeitsplatz. Gemeint waren Kirchen, Cafés, Bibliotheken oder Parkanlagen. Laut Oldenburg sind diese dritten Orte wichtig für die Zivilgesellschaft und die Demokratie.
An diesen Orten tauschen sich Menschen auf neutralem Boden aus. Es entsteht ein Gemeinschaftsgefühl und eine Öffentlichkeit. Schon bei den alten Griechen galt die Agora, der Marktplatz, als Geburtsstätte der Demokratie. Bei den Römern war das Forum mindestens ebenso wichtig: Hier trafen sich die Bürger zum Austausch, hier hielten die Volkstribune ihre Reden.
Öffentliche Räume können aber auch Streitzonen sein. Vor allem zwischen Wohnen und Leben: Anwohner*innen fühlen sich durch Lärm oder Littering in ihrer Ruhe gestört. Dabei stehen Jugendliche stark im Fokus. Nicht selten wird die Forderung erhoben, die Jungen von bestimmten Plätzen zu verbannen. Dabei sind es die Jugendlichen, die Mühe haben, einen neutralen dritten Ort zu finden.
«Wenn wir ausserhalb der Öffnungszeiten dort sind, meckern die Rentner»
Linus* ist 16 Jahre alt. Aufgewachsen ist er in einer kleinen Gemeinde im Kanton Aargau. Fussball ist seine Leidenschaft. Daher verbringt er auch viel Zeit auf dem «roten Platz», einem Fussballplatz bei der Schule. Bleiben kann er, solange der Platz offen ist. Denn dieser hat Öffnungszeiten. «Wenn wir ausserhalb der Öffnungszeiten dort sind, meckern die Rentner», erzählt Linus blue News.
Viel mehr gibt es für Jugendliche im Dorf nicht. «Einige hängen am Bahnhof herum», so Linus. Er treffe sich mit seinen Freunden auf irgendeiner Bank im Dorf oder bei jemandem zu Hause. «Wenn ich darüber nachdenke, ist das Angebot schon sehr klein.» Früher habe er ab und zu noch den Jugendraum im Dorf besucht, aber: «Dieser ist nur für Primarschüler gedacht. Wir älteren dürfen uns dort also gar nicht aufhalten.»
Schlimm fände er das jetzt nicht. Jugendliche würden sich nämlich einen Ort wünschen, der nicht so «crowded», also voll, ist.
Ähnlich wie Linus beschreibt es auch Marco Bezjak. Er ist Jugendarbeiter und Präsident von Mojuga, einer Stiftung für Kinder- und Jugendförderung. Von Jugendlichen höre er immer wieder, dass sie andere nicht stören möchten, sie aber wiederum auch nicht gestört werden wollen. Denn in seiner Arbeit stelle Bezjak fest, dass Jugendliche für viele Erwachsene ein Dorn im Auge sind: «In vielen Fällen reicht die blosse Anwesenheit einer Gruppe Jugendlicher, dass sich Erwachsene gestört fühlen.» Dabei seien Jugendliche die einzigen, die mangels eigener Räume auf den öffentlichen Raum angewiesen sind.
Die Anliegen der Jugendlichen werden kaum berücksichtigt
«Aber ihre Anliegen werden bei der Raumplanung kaum berücksichtigt.» Die Überlegung der Planungsverantwortlichen drehe sich vielmehr um Ruhe, Ordnung und die Frage, wie die Infrastruktur am einfachsten gereinigt und erhalten werden könne.
Voraussetzungen für den idealen Raum für die Teenies: «Überdachte, leicht beleuchtete Orte, bestenfalls mit einigen Sitzgelegenheiten und Stromanschluss in der Nähe, sowie in der Nachbarschaft eines Lebensmittelladens», so Bezjak.
Aber ganz so einfach ist es eben doch nicht. «Unsere Erfahrungen zeigen, dass sich Jugendliche Räume nicht zuweisen lassen, sie nehmen sie sich selbst. Ihre Treffpunkte lassen sich nicht planen, ihre Verhaltensweisen ändern sich rasch. Es reicht die Eröffnung eines Tankstellenshops, um die bekannten Bewegungsmuster über den Haufen zu werfen.»
Städte schaffen keine Räume für konkrete Zielgruppen oder Nutzungen
Das bestätigt auch Tom Steiner, Geschäftsführer beim Zentrum öffentlicher Raum (Zora): «Die Bedürfnisse der Jugendlichen verändern sich rasch und die Nutzungen verlagern sich auch dynamisch von Ort zu Ort.» Darum werden Jugendliche bei der Planung und Gestaltung von öffentlichen Räumen kaum berücksichtigt.
Das sei auch der Grund, warum Städte ihre öffentlichen Räume weniger für konkrete Zielgruppen oder Nutzungen gestalten würden. «Sie schaffen Möglichkeitsräume, die im besten Fall für die Aneignung durch ganz unterschiedliche Zielgruppen attraktiv sind», erklärt Steiner.
Für den partizipativen Einbezug von Jugendlichen in die entsprechenden Planungsprozesse seien die Umsetzungsfristen in der Regel zu lange. Steiner betont aber: «Dennoch sollten die Bedürfnisse und die Lebenswelt-Expertise in der Planung berücksichtigt werden.»
Auch das Bundesamt für Raumentwicklung (ARE) erklärt, dass es einfacher ist, Kinder und Senioren in den partizipativen Planungsprozess einzubeziehen. Denn diese würden sich mehr an der Sache beteiligen oder die Schulen seien von Anfang an in den Prozess involviert. Bei Teenagern gelingt dies nur mit gezielten Methoden. Beispielsweise, wenn die Jugendarbeit von Anfang an miteinbezogen wird.
Wie wichtig die Jugendarbeit in diesem Prozess ist, betont auch Marco Bezjak: «Damit eine solche Nutzung funktioniert, braucht es eine kontinuierliche, fachlich geführte und behördliche beauftragte offene Jugendarbeit, die über viele Jahre wirken kann.»
Mobile Treffunkte als Lösung
In Zusammenarbeit mit den Behörden – und falls die dafür nötige Mittel vorhanden sind – werde eine solche Jugendarbeit eine geeignete Auswahl an zwischennutzbaren Flächen treffen. Und mobile Geräte wie Bänke, Abfalleimer, Feuerstellen und Unterstände zur Verfügung stellen.
Bezjak hat das schon ein paar Mal miterlebt: «Wir dürfen mit Gemeinden arbeiten, in denen Jugendliche mögliche Standorte für einen Bauwagen oder einen Pavilion vorschlagen. Die Gemeinde prüft dann, ob ein mobiler Cliquenraum möglich ist.»
Ideal wäre aber, dass Gemeinden bewusst mehrere Flächen für Jugendliche freihalten würden, die nicht für eine bestimmte Nutzung vorgesehen sind, sondern für Jugendliche frei gestaltbar und flexibel nutzbar.