Lebensmittel-Rating Migros versetzt dem Nutri-Score einen harten Schlag

Stefan Michel

30.5.2024

Eine der Sparmassnahmen der Migros ist, dass der Detailhändler seine Eigenprodukte nicht mehr mit dem Nutri-Score kennzeichnet. Das schwächt das Label für die Nährwert-Qualität von Lebensmitteln.

Stefan Michel

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Migros hat angekündigt, Lebensmittel aus eigener Produktion nicht mehr mit dem Nutri-Score zu kennzeichnen.
  • Auch Emmi will künftig auf das freiwillige Label verzichten.
  • Nutri-Score hilft, verarbeitete Lebensmittel der gleichen Kategorie (z. B. Jogurt oder Backwaren) miteinander zu vergleichen, in Bezug auf die Qualität ihrer Inhaltsstoffe.
  • Je weniger Hersteller den Nutri-Score verwenden, desto geringer ist seine Wirkung. Der Ausstieg von Migros und Emmi ist deshalb ein harter Schlag – auch für den Bund, der das Label eingeführt hat und propagiert.

Ein kleiner Schritt für die Migros, ein grosser Rückschritt für den Nutri-Score. Der Migros Genossenschaftsbund MGB hat diese Woche als Teil seiner Sparmassnahmen bekannt gegeben, das Lebensmittel-Label Nutri-Score nicht mehr auf seine Eigenprodukte zu drucken.

Im Vergleich zu 150 gestrichenen Vollzeit-Stellen erscheint das als bescheidener Kürzungsschritt. Für Nutri-Score in der Schweiz ist der Austritt der Migros jedoch ein spürbarer Verlust. Umso mehr, als wenige Tage Später auch Milchverarbeiter Emmi den Ausstieg aus dem Nutri-Score-Label bekannt gegeben hat. 

Der Nutri-Score ist die fünfstufige Farb-Skala, die auf vielen verarbeiteten Lebensmitteln darüber aufklärt, wie gesund diese aufgrund ihrer Inhaltsstoffe sind – im Vergleich zu anderen Produkten der gleichen Art. Ein Naturjoghurt schneidet besser ab als gesüsster Rahmquark, das Vollkornbrot besser als der Butterzopf. Der Nutri-Score sagt aber nichts darüber aus, ob ein Lebensmittel an sich gesund ist oder nicht.

Was der Nutri-Score zeigt und was nicht

Der Nutri-Score übersetzt gewissermassen die Liste der Inhaltsstoffe, die auf jedem verarbeiteten Lebensmittel aufgedruckt ist, in eine einfach und schnell erkennbares Rating: A ist am gesündesten, E am ungesündesten.

Aus welchen Lebensmitteln sich eine ausgewogene Ernährung zusammensetzt, lässt sich ebenfalls nicht aus den Nutri-Score herauslesen. Dafür braucht es weiterhin die Lebensmittel-Pyramide, die Unterrichtsstoff in Schweizer Schulen ist. Marie-Noëlle Falquet, Dozentin für Lebensmitteltechnologie der Berner Fachhochschule erläutert: «Die Lebensmittel-Pyramide hilft, eine ausgewogene Ernährung zusammenzustellen, sie hilft gewissermassen bei der Menü-Planung. Der Nutri-Score ist ein Hilfsmittel beim Einkaufen. Die beiden Systeme sind komplementär.»

In der Schweiz ist der Nutri-Score 2019 zuerst auf Joghurts des französischen Herstellers Danone aufgetaucht. Trotz Skepsis haben nach und nach auch einige Schweizer Produzenten verarbeiteter Nahrungsmittel die Bewertung übernommen und auf ihre Produkte gedruckt.  

Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV unterstützt den Nutri-Score und hilft, diesen bekannt zu machen, etwa mit Erklärvideos dazu, wie die Bewertung zu interpretieren ist. Es hat auch schon eine Studie in Auftrag gegeben, die die Wirksamkeit der Kennzeichnung untersuchte. Das übergeordnete Ziel des Bundes sei, die Ernährungskompetenz der Bevölkerung zu stärken, schreibt das BLV auf Anfrage von blue News. Dafür fördere er die Information über gesunde Ernährung.

2000 Migros-Produkte künftig ohne Nutri-Score

Das BLV bedauert den Ausstieg der Migros: «Es ist in erster Linie eine schlechte Nachricht für die Konsumentinnen und Konsumenten, wenn sich Unternehmen vom Nutri-Score zurückziehen.» Wer künftig in der Migros einkauft, muss wieder die Inhaltstabelle studieren, um sich ein Bild davon machen zu können, welches Produkt der eigenen Gesundheit am zuträglichsten ist.

Laut MGB wird es mehrere Jahre dauern, bis alle Nutri-Scores von den Verpackungen verschwunden sind. «Wir werden keine bereits produzierten Verpackungen vernichten», verspricht der MGB auf Anfrage von blue News.

Eine schlechte Nachricht ist der Ausstieg von Migros und Emmi allerdings auch für den Nutri-Score selber. Marie-Noëlle Falquet von der Berner Fachhochschule hat dessen Wirksamkeit untersucht. Sie erklärt: «Je mehr Produkte einen Nutri-Score tragen, desto besser können die Kunden vergleichen.» Allgemeiner gesprochen, je verbreiteter das Label ist, desto mehr wird es beachtet. Und mit jedem Hersteller, der aussteigt, sinkt dessen Bedeutung und die Wirkung.

Mit Migros ist ein echtes Schwergewicht ausgestiegen. 2000 Produkte haben laut MGB das Label getragen. «Die Erfahrungen seit der Einführung vor drei Jahren haben gezeigt, dass der Nutzen im Verhältnis zu den hohen Kosten zu gering ist», schreibt der MGB in seiner Medienmitteilung. Die Angaben zu den Inhaltsstoffen seien wie bisher auf der Verpackung zu finden.

Das BLV meldet blue News, Stand Ende März hätten 97 Hersteller 9800 Produkte mit ihrem Nutri-Score versehen. Die 2000 Migros-Erzeugnisse werfen die Verbreitung des Nutri-Scores also deutlich zurück.

Emmi hat das Label bei seinem Topseller Caffè Latte verwendet, schafft dies aber wieder ab, weil kein anderer Anbieter von Kaffee-Milchmischgetränken mitgezogen habe, Vergleichbarkeit sei so nicht möglich, betont eine Sprecherin. Mit der Entscheidung der Migros habe der Ausstieg von Emmi nichts zu tun. 

Studien zeigen: Nutri-Score wirkt

Die Frage ist nun: Wie schlimm ist das für die Gesundheit der Menschen in der Schweiz? Die Berner Fachhochschule hat 2021 unter der Leitung von Marie-Noëlle Falquet eine Studie zur Wirksamkeit des Nutri-Score publiziert. Die Befragung von über 1000 Personen hat ergeben: Unter jenen, die den Nutri-Score kennen, können sich sechs von zehn vorstellen aufgrund der Bewertung das gesündere Produkt zu wählen.

Auch internationale Studien bestätigen die Tendenz, dass Einkaufende wieder zum gesünderen Produkt greifen, weil ihnen der Nutri-Score dazu rät. Am stärksten verbreitet ist er in Frankreich, wo der Staat grosse Anstrengungen unternimmt, dass das Label präsent ist und von den Konsument*innen verstanden wird. Bis 2050 sollen gemäss einer Studie der OECD in diesem Land dank des Labels und der daraus folgenden gesünderen Ernährung so viele Menschen länger leben, dass insgesamt 138'432 Lebensjahre gewonnen würden.

Die Migros-Kund*innen und Caffè-Latte-Käufer*innen müssen dafür wieder das Kleingedruckte auf der Verpackungsrückseite lesen.