Corona-ImpfstoffMenschen als Versuchsobjekte – was Sie über klinische Studien wissen müssen
Von Jennifer Furer
13.8.2020
Bevor ein Corona-Impfstoff und Medikamente, die das Virus bekämpfen, auf den Markt kommen, müssen sie an Menschen getestet werden. Ist das ethisch vertretbar? Und wer eignet sich überhaupt als Testperson?
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Wann sind Forschungen am Menschen erlaubt?
Grundsätzlich ist Forschung am Menschen in der Schweiz verboten – ausser ein Projekt wird von einer unabhängigen Kontrollinstanz bewilligt. Es gibt aber auch Projekte, die keine Bewilligung benötigen. Dabei handelt es sich um Studien, bei denen Menschen kein Nachteil oder Schaden zu befürchten haben. Dies ist bei der Untersuchung von anonymisiertem biologischem Material oder bei der Auswertung von anonymisierten Gesundheitsdaten der Fall.
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Wieso braucht es klinische Studien am Menschen?
Damit ein neues Arzneimittel oder ein Impfstoff zugelassen werden können, müssen diese zuerst am Menschen getestet werden. Dafür wird eine behördliche Bewilligung benötigt. Diese überprüfen in erster Linie, ob der Schutz der Teilnehmenden sowie der respektvolle Umgang mit Gesundheitsdaten gewährleistet ist. Das übergeordnete Ziel von klinischen Studien ist, die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern.
«Arzneimittel können nur zugelassen werden, wenn sie sicher, wirksam und qualitativ einwandfrei sind», sagt Lukas Jaggi Sprecher bei Swissmedic. Um dies nachzuweisen, seien klinische Versuche unumgänglich. «Klinische Versuche am Menschen gewährleisten somit, dass nur qualitativ hoch stehende, sichere und wirksame Heilmittel in Verkehr gebracht werden.»
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Wer bewilligt Projekte, die am Menschen forschen?
Zum einen das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic und zum anderen kantonale Ethikkommissionen. Auch das Bundesamt für Gesundheit entscheidet in Ausnahmefällen, ob eine klinische Studie durchgeführt werden darf.
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Wie sehen die drei Phasen von klinischen Studien aus?
Das Studienprotokoll definiert, welche Personen am jeweiligen klinischen Versuch teilnehmen dürfen. Die Ethikkommission prüfen dieses Studienprotokoll. Folgende Phasen – nach der vorklinischen Phase mit Labor- und Tierversuchen – gibt es:
In den Phase-I-Studien, auch «first in man» genannt, wird die Wirksamkeit am Menschen getestet. Es werden wenige gesunde Probanden getestet. Ziel ist es, zu schauen, ob ein Arzneimittel sicher und verträglich ist, nachdem es oral, als Injektion oder Infusion verabreicht wurde. Ein Impfstoff wird zudem auf seine Reaktion im Körper beobachtet. Die Probanden werden auf das Auftreten und die Schwere von Nebenwirkungen beobachtet. Ausserdem wird eine Beurteilung vom Stoffwechsel, dem Abbau und der Ausscheidung vorgenommen.
Bei der zweiten Phase geht es ebenfalls um die Sicherheit und Wirksamkeit. In dieser Phase wird geschaut, ob unterschiedliche Dosierungen der Behandlung unterschiedliche Wirkungen hervorrufen. Die Studie wird von zirka 100 bis ein paar Tausend Probanden ausgeweitet.
In Phase-III-Studien geht es um die Bestätigung der Sicherheit und Wirksamkeit. Die Probandengruppe wird auf einige Hundert bis Tausend Teilnehmenden ausgeweitet, um die Vorteile und die Sicherheit hinreichend zu bestätigen. Es geht auch um unerwünschte Wirkungen. Zudem wird geschaut, wie sich das Präparat oder der Impfstoff zu anderen etablierten Behandlungen und in Kombination mit anderen Arzneimittel verhält.
Phase-IV-Studien überprüft das Medikament oder den Impfstoff, nachdem es auf den Markt zugelassen wurde.
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Woher stammen Testpersonen?
Verstorbene und lebende Forschungsteilnehmer nehmen aus freiem Willen an einem Projekt teil – zumindest in der Schweiz. Es gibt Länder, die in der Kritik stehen, Forschung an Menschen zu vollziehen, die dies nicht möchten. So etwa China.
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Wie viele Personen braucht es für klinische Studien?
Die Zahl der Teilnehmenden wird durch die statistische Aussagekraft der Studie definiert, dies ist im jeweiligen Studienprotokoll festgehalten, sagt Lukas Jaggi, Sprecher bei Swissmedic. Ganz allgemein gelte: Je weniger im Entwicklungsverlauf eines Arzneimittels über seine Sicherheit und Wirksamkeit bekannt ist, desto weniger Teilnehmende werden in der entsprechenden Studie mitwirken.
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Welche Voraussetzungen müssen Testpersonen erfüllen?
«Dies richtet sich nach der wissenschaftlichen Fragestellung der Studie und ist im Detail im jeweiligen Studienprotokoll definiert», sagt Lukas Jaggi, Sprecher bei Swissmedic.
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Können Testpersonen ihre Teilnahme abbrechen?
Ja, Forschungsteilnehmende haben das Recht, jederzeit aus der Studie auszusteigen. Solange sie aber an der Studie teilnehmen, haben sie die Pflicht, sich an die Vorgaben der Forschenden zu halten. Letztere haben hingegen die Pflicht, die Teilnehmenden vorgängig über die Studie aufzuklären. Während der Studie müssen Forschende zudem besondere Vorkommnisse der zuständigen Ethikkommission, der Swissmedic und in Ausnahmefällen dem BAG mitteilen. Auch über unvorhergesehene Ereignisse müssen den Behörden regelmässig gemeldet werden. Diese können bei Bedarf intervenieren – und ein Forschungsprojekt im Extremfall abbrechen.
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Wann werden klinische Studien abgebrochen?
Die Bewilligung zur Durchführung eines klinischen Versuchs kann laut Lukas Jaggi, Sprecher von Swissmedic, durch Swissmedic oder swissethics sistiert oder entzogen werden, wenn Informationen vorliegen, dass die Sicherheit der Teilnehmenden akut gefährdet beziehungsweise, wenn die Massnahmen des Sponsors der Studie zur Gewährleistung der Sicherheit der Teilnehmenden nicht oder nicht hinzureichend vorliegen. Der Sponsor kann seinerseits einen klinischen Versuch ebenfalls unterbrechen oder abbrechen.
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Obliegen Forscherinnen und Forscher Grenzen im Umgang mit Teilnehmenden der klinischen Studien?
Das Humanforschungsgesetz (HFG), das Heilmittelgesetz (HMG) und zugehörige Verordnungen wie beispielsweise die Verordnung über klinische Versuche am Menschen (KlinV) regeln, unter welcher Voraussetzung Forschung am Menschen unter Wahrung von deren Würde, Persönlichkeit und Gesundheit stattfinden darf.
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Setzen sich Testpersonen Risiken aus?
Ja. Menschen, die an einer klinischen Studie teilnehmen, setzten sich einem Risiko aus, obwohl eine Behörde das Verfahren bewilligt hat.
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Haben klinische Studien irgendwelche Vorteile für Testpersonen?
Je nach Projekt haben Teilnehmende die Chance, frühzeitig von neuen wissenschaftlichen Kenntnissen zu profitieren. Zudem wird die Teilnahme an klinischen Studien finanziell entschädigt.
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Wann wird ein Medikament oder Impfstoff zugelassen?
Die Zulassung erfolgt nur, wenn sich der Impfstoff oder die Arznei als wirksam erweist – und Risiko und Nutzen in Balance zueinanderstehen.
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Werden Menschen mit Corona infiziert, um an ihnen einen möglichen Impfstoff zu testen?
Es ist laut Dr. med. Peter Kleist, Geschäftsführer der Ethikkommission des Kanton Zürich aus mehreren Gründen sehr unwahrscheinlich, dass in der Schweiz eine sogenannte «kontrollierte Infektionsstudie» durchgeführt wird:
Das Risiko ist auch bei einer sehr sorgfältig ausgewählten Low-Risk-Gruppe (also Personen mit kleinem Risiko schwerwiegender Folgen bei einer Infektion mit dem Coronavirus) ist nicht kalkulierbar.
Weil wir noch zu wenig über das Virus wissen, ist eine umfassende Aufklärung der Testpersonen kaum möglich.
Es gibt keine wirksame Behandlung, die schwerwiegende Komplikationen oder Todesfälle verhindert.
Der Vorteil der Beschleunigung der Durchführung würde durch eine sehr lange Vorlaufzeit aufgehoben.
Wie viele Gesuche für klinische Studien in Zusammenhang mit Covid-19 wurden in der Schweiz eingereicht?
Das erste Covid-Projekt wurde im Januar bei der Ethikkommission im Tessin eingereicht. Bis im Monat Mai wurden insgesamt 252 Gesuche für klinische Studien in Zusammenhang mit Covid-19 eingereicht. Der Höhepunkt wurde im April mit 126 Gesuchen erreicht. Das sind fast doppelt so viele wie im Vormonat.
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Wie lauten die Anforderungen der internationalen Zulassungsbehörden für den Test eines Corona-Impfstoffs an Menschen?
Verschiedene Behörden haben sich zusammengeschlossen und sich auf einen Anforderungskatalog geeinigt, wie Tests an Menschen mit einem möglichen Corona-Impfstoff durchgeführt werden müssen.
Es braucht mehrere Tausend Teilnehmer.
Unter den Testpersonen müssen auch Personen sein, die älter als 55 Jahre sind.
Auch Menschen mit Begleiterkrankungen müssen unter den Teilnehmenden sein.
Vorwiegend wollen Teilnehmer gewonnen werden, die noch keine Corona-Infektion durchgemacht haben.
Der Impfstoff soll aber auch an Personen erprobt werden, die eine Corona-Infektion überstanden haben. Dies, weil so sichergestellt werden kann, dass es kein Sicherheitsproblem gibt, wenn auch diese geimpft werden.
Ob an Schwangeren getestet werden soll, wird je nach Projekt erwägt – gestützt auf vorangehenden Tierversuchen.
Bei allen Studien soll es Zwischenergebnisse geben. Damit soll eine ungenügende Wirksamkeit und mögliche Risiken frühzeitig erkannt werden.
Was ist der aktuelle Forschungsstand bezüglich eines Corona-Impfstoffs?
Gemäss einer aktuellen Auflistung der Weltgesundheitsorganisation befinden sich derzeit 28 Corona-Impfstoffe in der klinischen Phase der Evaluation, werden also an Menschen getestet. Darunter ist auch jenes von Moderna. Die Schweiz hat mit Moderna bereits einen Vertrag für den Bezug dieses Impfstoffs abgeschlossen. Weitere 139 Impfstoffkandidaten befinden sich noch in der vorklinischen Studie. Laut einem Bericht der deutschen forschenden Pharmaunternehmen kommt eine Handvoll von Impfstoffen hinzu, die noch nicht auf der WHO-Liste erfasst sind.