Interview Mehr Grünflächen und umgenutzte Büros: Wie Corona unsere Städte verändert

Von Jennifer Furer

13.7.2020

Zürich, Genf, Luzern (hier im Bild): Die Corona-Krise macht auch vor Schweizer Städten nicht halt. 
Zürich, Genf, Luzern (hier im Bild): Die Corona-Krise macht auch vor Schweizer Städten nicht halt. 
Keystone

Die Corona-Krise wird das Leben in Städten verändern. Ein Gespräch mit Renate Amstutz, Direktorin des Schweizerischen Städteverband, über die künftige Mobilität, Homeoffice und den Städtetourismus.

Frau Amstutz, hat Corona unsere Städte beeinflusst?

Städte bilden in unserem Land den Lebensmittelpunkt eines Grossteils der Bevölkerung. Drei Viertel der Menschen leben in Städten und in Agglomerationsgemeinden. Städte sind soziale, wirtschaftliche und kulturelle Zentren. Darum hat die Pandemie massive Einwirkungen auf sie – während des Lockdowns, aber auch danach und auf längere Frist.

Zur Person
zvg

Renate Amstutz ist Direktorin des Schweizerischen Städteverbands.

Was hat der Lockdown bewirkt?

Es kam zu radikalen Veränderungen. So habe ich den öffentlichen Raum und auch den öffentlichen Verkehr noch nie erlebt. Wir hatten fast menschenleere Strassen, Plätze und öffentliche Verkehrsmittel. Die Wirtschaft wurde heruntergefahren, die Schulen waren geschlossen und die Kultur funktionierte nicht mehr. Nach dem Lockdown wieder zu einer Art Normalität zurückzukehren, ist äusserst anspruchsvoll.

Inwiefern?

Wir befinden uns nicht in einer Nach-Corona-Phase, sondern sind noch mittendrin. Es braucht gegenseitigen Respekt, indem die nötigen Distanz- und Hygienemassnahmen gewahrt werden. Nur so kann auch wieder Vertrauen entstehen.

Wie soll das funktionieren?

Beim Lockdown standen die gesundheitlichen Aspekte klar im Vordergrund. Die Rückkehr zu einer Art neuer Normalität bedeutet, einer Vielzahl von Ansprüchen gerecht zu werden, von der Gesundheit über die Wirtschaft bis zum gemeinsamen Erleben.

Nebst der Herausforderung bieten sich aber auch neue Ansätze, die dadurch umgesetzt werden können.

Die Krise zwingt uns, sofort Lösungen für eine neu vorherrschende Situation zu finden. Städte waren immer schon Pioniere. Sie sind auch heute Pioniere und haben mit innovativen, kreativen und unkomplizierten Ansätzen sehr rasch auf die veränderte Situation reagiert.

Mobilität
Der Veloverkehr (hier ein Bild aus der Stadt Zürich) hat in der Corona-Krise zugenommen, stellt Amstutz fest.
Der Veloverkehr (hier ein Bild aus der Stadt Zürich) hat in der Corona-Krise zugenommen, stellt Amstutz fest.
Keystone/Christian Beutler

Was sind Beispiele für schnelle Reaktionen von Städten auf die Corona-Krise?

Einmal abgesehen von den äusserst umfangreichen Unterstützungsmassnahmen zugunsten von Wirtschaft und Bevölkerung: Im öffentlichen Raum wurde mehr Platz für Aussenbestuhlung zur Verfügung gestellt, um die Distanzregeln wahren zu können. Man hat Plätze, die bisher nicht so genutzt wurden, umfunktioniert. So wurde der Carparkplatz in Luzern begrünt. Und in der Westschweiz wurden relativ schnell zusätzliche Velospuren geschaffen. Das sind alles Massnahmen, die vielleicht nur vorübergehend sein werden. Aber beispielsweise beim Veloverkehr gab es Impulse, die nachhaltig sein könnten.

Prägen künftig also Velos das Stadtbild und Autos werden verdrängt?

Es geht nicht um eine Verdrängung. Aber der Veloverkehr hat durch die Krise massiv zugelegt. Ich bin überzeugt, dass die steigende Bedeutung des Velos – und auch des Fussverkehrs – in den Städten nachhaltig sein wird.

Was ist mit dem öffentlichen Verkehr?

Mit der Maskenpflicht kehrt nun langsam auch wieder das Vertrauen in den öffentlichen Verkehr zurück, der ja zeitweise bis zu 80 Prozent weniger Passagiere verbuchte, auch aufgrund des Homeoffice für grosse Teile der Bevölkerung. Der öffentliche Verkehr ist und bleibt aber in Städten und Agglomerationen und auch zwischen diesen ein zentrales Transportmittel.

Was ist mit dem Auto?

Wohl waren einige Menschen, die noch reisen mussten, vermehrt mit dem Auto unterwegs, um sich vor einer Ansteckung zu schützen. Eine Dauerlösung kann dies natürlich nicht sein ... Die sehr knappen Platzverhältnisse in den Städten und Agglomerationen würden ein Wachstum des Autoverkehrs gar nicht erlauben. Nach dem Homeoffice käme dann der Stau – und das No Office.

Warum?

Die Frage nach der Flächeneffizienz und der Klimaverträglichkeit von Transportmitteln stellt sich auch unabhängig von der Pandemie. Die Diskussion dazu findet weiter statt. Es ist nun einmal so, dass die Fläche in den Städten begrenzt ist und es immer wieder zu Konflikten kommt. Für mich ist aber bereits jetzt klar: Die Mehrbenutzung des Velos während der Corona-Krise, aber auch die Ansprüche an den öffentlichen Raum generell angesichts der Distanzregeln, haben einen Schub ausgelöst, die Flächenansprüche in Städten neu zu überdenken.

Wie lange wird es brauchen, bis sichtbare Veränderungen eintreten?

Das kann ich so nicht beantworten. Es sind keine Prozesse, bei denen es einen Anfangs- und Endpunkt gibt. Veränderungen geschehen laufend. Es geht um einzelne Schritte, die in eine bestimmte Richtung gemacht werden. Es wird keinen grossen Wurf geben, der sich am Tag X ereignen wird. Das ist etwas Typisches für die Schweiz, aber natürlich auch eine Frage von Planung, Verfahren und nicht zuletzt auch der Finanzen: Man geht mit kleinen Einzelschritten voran – und verändert nicht das komplette Bild auf einen Schlag.

Homeoffice
Das Homeoffice hat nicht nur Vorteile, sagt Amstutz.
Das Homeoffice hat nicht nur Vorteile, sagt Amstutz.
Keystone/Christian Beutler

Hat Corona aber die Geschwindigkeit verändert, mit der einzelne Veränderungen gemacht werden?

Das wäre möglich. Denn die Corona-Krise hat gezeigt, dass die Umsetzung einzelner Schritte sehr schnell gemacht werden können.

Haben Sie ein Beispiel?

Schauen wir uns den Übergang ins Homeoffice an. Die Entwicklung zu einer digitaleren Arbeitsweise, in der Firmen ihre Mitarbeitenden künftig mehr von zu Hause aus arbeiten lassen wollen, gab es schon vor Corona. Die Krise hat die Geschwindigkeit dieser Entwicklung aber massiv erhöht.

Inwiefern hat das Homeoffice Auswirkungen auf Schweizer Städte?

Noch wissen wir nicht, in welchem Mass Homeoffice weitergeführt wird. Je nach Ausmass wird es mehr oder weniger Auswirkungen auf die Städte haben, indem beispielsweise Büroräumlichkeiten umgenutzt werden oder weniger Menschen sich in der Stadt bewegen. Aber ich glaube nicht, dass es in absehbarer Zeit einschneidende Veränderungen geben wird.

Sie glauben also nicht an eine radikale Veränderung der Städte durch Homeoffice?

Ich denke, dass der Digitalisierungsschub nachhaltig sein wird, aber unser Leben nicht komplett auf den Kopf stellt. Man hat zwar jetzt die Vorteile des Homeoffice gesehen, aber eben auch die Nachteile und die Grenzen. Video-Meetings eignen sich zwar für einfache Konversationen und Präsentationen, aber sobald es um Verhandlungen, komplexe oder kontroverse Themen geht, bei denen erst noch viele Leute beteiligt sind, wird es ohne physische Präsenz sehr schwierig. Menschen haben ein Bedürfnis nach sozialem Kontakt, das bleibt sehr wichtig.

Könnte es sein, dass durch die Zunahme des Homeoffice mehr Menschen aufs Land ziehen, weil der Arbeitsweg wegfällt?

Städtische Zentren bieten eine Vielfalt, die ihresgleichen sucht. Sie haben eine enorm hohe Lebensqualität. Deshalb wachsen sie auch. Auch wenn es zu mehr Homeoffice kommt, werden Zentren ihre zahlreichen Funktionen behalten und als Ort der Begegnung geschätzt. Zudem: Die Schweizer Bevölkerung hat mit der Abstimmung über das Raumplanungsgesetz einer weiteren Zersiedelung eine klare Absage erteilt.

Lokale Angebote
Wird das Gewerbe aus Städten verdrängt und was macht der Onlinehandel mit lokalen Angeboten?
Wird das Gewerbe aus Städten verdrängt und was macht der Onlinehandel mit lokalen Angeboten?
Keystone/Gaetan Bally

Wird die Corona-Krise denn überhaupt konkret etwas verändern?

Ich bin keine Prophetin. Aber weil mit der Pandemie der Bewegungsradius massiv eingeschränkt war, haben beispielsweise viele Menschen festgestellt, dass es auch in ihrer Nähe manches zu entdecken gibt. Lokale Angebote und Anbieter haben an Bedeutung gewonnen. Diese Entwicklung wird, so hoffe ich, Bestand haben; denn eine lebendige Umgebung mit vielfältigen Angeboten hat eine hohe Qualität. Ich bin aber nicht nur zuversichtlich.

Wieso?

Mit der Öffnung der Grenzen hat beispielsweise der Einkaufstourismus sofort wieder angezogen. Und der Onlinehandel hat durch Corona auch deutlich gewonnen. Allerdings muss man das differenziert betrachten; denn viele kleine Anbieter haben entdeckt, wie vorteilhaft ein Web-Shop zusätzlich zu einem Laden ist. Wie sich die Erfahrungen während der Krise auf die Reise- und Feriengewohnheiten auswirken werden, ist im Moment schwer abschätzbar.

Gewerbe in der Stadt
Gibt’s wegen Corona bald keine Läden mehr in der Stadt?
Gibts wegen Corona bald keine Läden mehr in der Stadt?
Keystone

Ein deutscher Stadtplaner sagte erst kürzlich in einem Interview mit dem ‹Spiegel›, dass er befürchtet, das Gewerbe in der Stadt könnte durch die Corona-Entwicklung nun definitiv verschwinden. Was denken Sie?

Diese Einstellung scheint mir sehr negativ. Aber es ist schon so, dass der Onlinehandel bereits vor Corona zu deutlichen strukturellen Veränderungen in den Innenstädten geführt hat. Es ist durchaus möglich, dass die Krise diese Entwicklung verstärkt. Es ist jedoch im Moment noch zu früh, dazu eine Prognose zu wagen. Aber die Städte sind sehr aktiv und setzen innovative Lösungen um. Das ist ein Prozess, der bereits länger dauert.

Solche Lösungen wären?

Wichtig sind Erdgeschossnutzungen, die durchaus auch temporär sein können. Durchmischte Nutzungen, wie Gewerbe, Wohnen, Freizeit und Kultur, oder zu mehreren Zwecken genutzte Räumlichkeiten schaffen eine Lebendigkeit, die unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Tageszeiten an einen Ort führt.

Verschwinden jetzt also reine Bürolandschaften?

Reine Bürolandschaften sind ohnehin kein Idealbild für eine lebendige Stadt. Es ist wie in der Landwirtschaft: Monokulturen sind nicht sehr widerstandsfähig, besser ist eine Durchmischung.

Widerstandsfähige Städte bauen
«Die Krise hat gezeigt, dass das Zusammenleben in der Stadt alles andere als anonym ist, sondern eine unglaubliche Nähe hat», sagt Amstutz.
«Die Krise hat gezeigt, dass das Zusammenleben in der Stadt alles andere als anonym ist, sondern eine unglaubliche Nähe hat», sagt Amstutz.
Keystone/Christian Beutler

Wie ist dies praktisch umsetzbar?

Es gibt interessante städtebauliche Ansätze in Richtung einer ‹Stadt der Nähe›. Sprich: Wichtige Funktionen wie Wohnen, Einkaufen, Arbeiten, Bildung, Freizeit und Kultur sind in kurzer Distanz erreichbar. So entstehen Subzonen, die beispielsweise mittels Grüngürteln, Plätzen oder Pärken von anderen Subzonen getrennt sind.

Wieso ist das erstrebenswert?

Die Stadt der Nähe ist auch eine Stadt der Resilienz. Wir brauchen eine Sehnsucht nach dieser Nähe.

Wir sprechen jetzt vor allem über räumliche Massnahmen, welche die Corona-Krise tangieren. Der Begriff ‹Stadt der Nähe› impliziert aber auch einen stärkeren sozialen Fokus.

Unbedingt! Räumliche und soziale Aspekte lassen sich nicht trennen. Die Krise hat gezeigt, dass das Zusammenleben in der Stadt alles andere als anonym ist, sondern eine sehr grosse Nähe hat. Ich spreche damit die Solidarität in den Quartieren an, die entstanden ist oder verstärkt wurde. Städte haben sehr viel Impulse für Nachbarschaftshilfe gegeben, Quartiervereine und kleinräumige, lokale Organisationen wurden aktiv. Es wurde dafür gesorgt, dass alle Menschen integriert blieben und für sie gesorgt wurde.

Im sozialen Bereich ändert sich ja stetig einiges, nicht nur wegen der Corona-Krise. Ich meine damit neue Familien- oder Arbeitsformen. Inwiefern wird das bei der künftigen Stadtplanung berücksichtigt?

Stadt ist kein Zustand, Stadt ist immer ein Prozess. Wenn neue Stadtteile oder Quartiere entwickelt werden, wird stark darauf geachtet, dass diese breite und wandelbare Nutzungsmöglichkeiten für Menschen mit verschiedenen Lebensentwürfen bieten. Es ist wichtig, bei der Planung an neue Anforderungen von künftigen Generationen zu denken.

Der öffentliche Raum und der Städtetourismus
Das Ausbleiben von Touristen aus dem asiatischen Raum setzt den hiesigen Städten (hier im Bild Luzern) zu.
Das Ausbleiben von Touristen aus dem asiatischen Raum setzt den hiesigen Städten (hier im Bild Luzern) zu.
Keystone/Urs Flueeler

Stichwort öffentlicher Raum: Inwiefern wird dieser durch Corona mehr beansprucht?

Unabhängig von Corona: Städte erleben aufgrund veränderter Lebensgewohnheiten und im Zusammenhang mit dem Klimawandel eine Mediterranisierung. Durch die Pandemie und durch das Ende des Lockdowns entdecken die Menschen das Draussensein nochmals neu. Diese Beanspruchung und Umnutzung des öffentlichen Raums könnte sich durch die Krise intensivieren. Allerdings bestehen hier räumliche Grenzen – es gilt, den unterschiedlichen Interessen gerecht zu werden.

Der öffentliche Raum wird derzeit kaum von Touristinnen und Touristen genutzt. Bedeutet die Corona-Krise das Ende des Städtetourismus?

Der öffentliche Raum ist bereits wieder intensiv belebt. Es fehlen im Moment gewisse Tourismussegmente. Aber der Städtetourismus bleibt attraktiv, auch wenn die Erholung wohl länger dauern wird. Städtische Hotels haben massive Einbussen verzeichnen müssen – auch, weil Touristen aus dem Ausland, vor allem dem asiatischen Raum, ausgeblieben sind. Im Sommer zieht es zudem viele Menschen in die Berge und die Natur.

Werden wir überhaupt wieder in die uns bekannte Normalität zurückkehren?

Die Pandemie hat uns bewusst gemacht, dass wir alte Gewissheiten aufgeben müssen. Sie ist nicht vorbei, wir werden wohl noch lange mit der neuen Situation leben müssen. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir unsere Sicherheit angenommen haben, ging verloren. Wie nahe wir uns global sind, weil ein Virus keine Landesgrenzen kennt, und was es bedeutet, wenn plötzlich der internationale Handel nicht mehr funktioniert, verändert unsere Wahrnehmung gerade stark. Es gilt jetzt umso mehr Lösungen für die Zukunft zu finden.

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