Epidemiologe zur Bundesrats-Strategie «Kostenpflichtige Tests sind kein Wundermittel»

Von Gil Bieler

12.8.2021

Dass der Bundesrat in der Pandemie Druck auf Ungeimpfte macht, findet der Epidemiologe Marcel Tanner richtig. Übers Portemonnaie allein lasse sich aber keine höhere Impfquote erreichen. 

Von Gil Bieler

Der Bundesrat leitet die Normalisierungsphase ein, obwohl die Dynamik der Pandemie alles andere als gut sei. Eine gefährliche Wette?

Nein, das ist keine gefährliche Wette. Der Bundesrat muss der Bevölkerung die Normalisierung als Perspektive geben. Es gibt zwar die Komplikation mit der ansteckenderen Delta-Variante, dennoch haben wir eine andere Situation als noch vor einem Jahr. Die Hälfte der Bevölkerung ist vollständig geimpft, ausserdem gibt es ja die Antigen-Schnelltests. Das erlaubt es, die Verantwortung wieder ein Stück weit an die Bürger und die Unternehmen zurückzugeben. Das ist ein wichtiger Schritt.

Bundesrat Alain Berset sagte am Mittwoch: Alle Impfpflichtigen hätten mittlerweile die Möglichkeit gehabt, sich impfen zu lassen. Trotzdem bleiben die Corona-Massnahmen weiterhin gültig.

Normalisierung heisst ja nicht, dass man alles fallen lassen muss. Der Bund, so scheint es mir, ist sich dieser Verantwortung durchaus bewusst – gerade wegen der Delta-Variante. Darum bleiben Massnahmen wie die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr oder in Innenräumen vorläufig auch weiter bestehen, und die Schulen werden ermutigt, regelmässig Covid-Tests durchzuführen. Kinder unter 12 Jahren können nicht geimpft werden, aber sie können sich infizieren. Daher bleiben Tests ein wichtiges Instrument, um Infektionsherde aufzuspüren. Das gilt ohnehin: Bund und Kantone müssen weiterhin überwachen, wo sich Infektionen ereignen, um rechtzeitig einschreiten zu können. Somit macht das Paket durchaus Sinn.

Zur Person
zVg

Marcel Tanner ist Epidemiologe und ehemaliges Mitglied der wissenschaftlichen Covid-19-Taskforce des Bundes.

Sie klingen sehr zuversichtlich. Doch gegen die Delta-Variante wirken die Impfstoffe weniger gut.

Das stimmt nicht ganz, da muss man aufpassen: Der Schutz gegen eine Infektion ist zwar schwächer, er liegt zwischen 60 und 80 Prozent. Aber der Schutz vor einer Erkrankung, der wirkt auch bei Delta. Das sieht man derzeit auch an den Hospitalisierungen. Hinzu kommt: Wer sich impft, hat eine viel geringere Virenlast. Das heisst, wer sich trotz Impfung infiziert, der wird die Viren in zwei, drei Tagen wieder los. Bei nicht geimpften Personen dauert dieser Prozess eine Woche. Man leistet also auch noch einen Beitrag für die Gesellschaft.

Die Durchimpfungsrate der Schweizer Bevölkerung liegt bei knapp 50 Prozent, im europäischen Vergleich ein tiefer Wert. Wird das zum Problem?

Solange man das als Prozess betrachtet, ist es kein Problem. Dass in einer Impfkampagne nach einem ersten Boom ein Plateau erreicht wird, ist typisch. Doch wenn man andere Bevölkerungsgruppen erreicht, geht es auch wieder aufwärts – ich hoffe, dass dies nun auch in der Schweiz erreicht wird. Vielleicht, weil viele aus den Ferien zurückkehren und sich nun doch noch impfen lassen. Bund und Kantone müssen die Impfung zur Verfügung stellen und sicherstellen, dass jeder, der sich impfen lassen will, auch zum Zug kommt. Es braucht niederschwellige Angebote, dass man etwa ohne Anmeldung vorbeikommen kann. Auch bei Risikopersonen sollte es nochmals einen gesonderten Effort geben. In Grossbritannien zum Beispiel haben Hausärzte ihre Patienten direkt kontaktiert, das hat sehr viel gebracht.



Um Ungeimpfte zu überzeugen, setzt der Bundesrat auf finanzielle Anreize: Tests sollen neu etwas kosten. Reicht das?

Ich finde, das darf man nicht als Impf-Stimulus ansehen. Das wäre zu einfach. Wenn man für Tests zahlen soll, ist das kein Wundermittel für mehr Impfbereitschaft. Es braucht Botschaften, die spezifisch auf die einzelnen Adressatengruppen zugeschnitten sind. Echte Kommunikation statt Propaganda. Dass die Tests erst ab dem 1. Oktober kostenpflichtig werden, ist in dieser Phase sicher die richtige Strategie. Hätte man das System von heute auf morgen umgestellt, würde man den Überblick über das verlieren, was sich abspielt.

Wie schaffen wir es, dass die Infektionszahlen wieder sinken?

Wir bekommen das hin, wenn wir erstens die bestehenden Massnahmen vorerst beibehalten. Zweitens: Wir müssen diese auch konsequent einhalten. Wenn man zu einer Sitzung mit 30 Teilnehmern geht, dann wäre die Idee, dass man sich beispielsweise davor selber testet, und nur geht, wenn man negativ ist. Das ist aber nicht die Aufgabe des Bundes, dafür braucht es gesunden Menschenverstand. Wenn der Bund sagt, wir treten in eine neue Phase der Pandemie ein, dann ist es auch nur folgerichtig, dass die Verantwortlichkeiten umverteilt werden.

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Bundesrat Alain Berset schreitet am Mittwoch in Bern zur Medienkonferenz über die neuesten Covid-Entscheide. 
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Bild: Keystone/