Schutz von Minderjährigen«Geldstrafen sind keine Antwort auf sexuelle Gewalt an Kindern»
Von Lia Pescatore
8.6.2022
Sexualdelikte im Internet häufen sich. Viele Opfer sind minderjährig. Das Parlament will den Kinderschutz stärken: Im Sexualstrafrecht, aber auch durch eine nationale Strategie, die heute im Nationalrat Thema ist.
Von Lia Pescatore
08.06.2022, 06:45
08.06.2022, 10:17
Lia Pescatore
Es beginnt harmlos:
«Hallo, wie geht es dir?» – «Mir geht es gut, und dir?»
Ein Mädchen sitzt in seinem Kinderzimmer und telefoniert über einen Videochat mit einem älteren Mann. Die belanglosen Fragen führen jedoch schnell zu sexuellen Übergriffen: Innert Sekunden findet der Mann eine Gelegenheit, um dem Mädchen seinen entblössten Unterleib zu zeigen.
Bei der Szene handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem tschechischen Dokumentarfilm «Gefangen im Netz»: Drei 19-jährige Schauspielerinnen haben sich für das filmische Experiment während zehn Tagen im Internet als 12-Jährige ausgegeben. In dieser Zeit haben sie 2458 Kontaktanfragen von Männern erhalten.
Dabei handelt es sich nicht um Einzelfälle: Dass Kinder im Internet sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind, ist auch in der Schweiz Realität. Im Jahr 2020 hat die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) 1000 Jugendliche befragt. 44 Prozent von ihnen gaben an, schon online von fremden Personen sexuell belästigt geworden zu sein. Zwei Jahre zuvor waren es noch 30 Prozent gewesen.
Der sexuelle Missbrauch von Kindern hat sich vom Spielplatz und Schulgelände ins Internet verlagert. «Es ist natürlich bedeutend einfacher, online Kontakt mit Minderjährigen aufzunehmen», sagt Chantal Billaud, stellvertretende Geschäftsleiterin der Schweizerischen Kriminalprävention in der «SonntagsZeitung».
Diese Kontaktversuche seien zu einem Massenphänomen geworden. 80 Prozent der Sexualdelikte, die im letzten Jahr im digitalen Raum begangen wurden, richteten sich laut Kriminalitätsstatistik gegen unter 20-Jährige.
Der bessere Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Sexualstraftätern ist auch in der parlamentarischen Sommersession Thema: Einerseits in der Debatte um die Revision des Sexualstrafgesetzes, die der Ständerat am Dienstag aufgenommen hat und die am nächsten Montag fortgesetzt werden soll. Andererseits behandelt der Nationalrat am Mittwoch eine Motion zu einer nationalen Strategie zur Bekämpfung von Pädokriminalität im Internet.
Die wichtigsten Streitpunkte rund um den Kinderschutz in der Übersicht.
Vergewaltigung: Ständerat für «Nein heisst Nein»-Lösung
Der Bundesrat will den Tatbestand der Vergewaltigung im Strafgesetz ausweiten. Neu soll sich auch strafbar machen, wer gegen den Willen des Opfers handelt. Es soll der Grundsatz «Nein heisst Nein» gelten.
07.06.2022
Cyber-Grooming soll strafbar werden
Einerseits dreht sich die Debatte um das sogenannte Cyber-Grooming: Erwachsene nehmen über das Internet Kontakt zu Minderjährigen auf, um diese sexuell zu missbrauchen oder auszubeuten. Besonders beliebt sind für die erste Kontaktaufnahme die sozialen Medien.
Das oben geschilderte Beispiel aus dem tschechischen Dokumentarfilm kann zum Beispiel als Cyber-Grooming bezeichnet werden. Abzugrenzen ist es von sogenanntem Sexting, wenn gleichaltrige Minderjährige einander Bilder mit sexuellem Inhalt zusenden.
Das können Eltern tun
KEYSTONE
Je besser Kinder und Jugendliche über Gefahren und Risiken im Netz Bescheid wissen, zum Beispiel über das Chatten mit Fremden oder den Missbrauch von Daten, umso besser können sie sich schützen.
Ein geeigneter Zeitpunkt, um das Kind aufzuklären, ist zum Beispiel das gemeinsame Einrichten der sozialen Profile. Währenddessen kann man klären, welche Bilder und Informationen das Kind teilen darf und welche nicht.
Falls das Kind sexuelle Übergriffe online erlebt, ist ein offenes Ohr wichtig und keine Sanktionen wie der Entzug des Geräts.
Als Erstes gilt es, Material zur Beweisführung zu sichern und den Betreiber der Plattform über den Vorfall zu informieren. Auch eine Anzeige gegen Unbekannt ist möglich.
Einzelne Aktionen wie Nötigung, Erpressung oder sexuelle Belästigung, die zum Cyber-Grooming gehören, sind bereits heute strafbar. Doch einen expliziten Tatbestand, der die Kontaktaufnahme zu Minderjährigen mit sexuellen Absichten im Internet unter Strafe stellt, gibt es nicht.
Die ständerätliche Rechtskommission sah in ihrem Vorentwurf einen Artikel vor, der das Cyber-Grooming, also auch die Vorbereitungshandlungen, explizit unter Strafe stellt.
Der Gesetzesartikel fiel jedoch im finalen Entwurf raus, mit der Begründung, dass es ausreichend sei, dass die versuchte sexuelle Handlung strafbar sei.
Anderer Meinung sind jedoch Experten für Kinderschutz, darunter Regula Bernhard Hug, Leiterin der Geschäftsstelle der Stiftung Kinderschutz Schweiz. Mit dem Gesetzesartikel könnten die bestehenden Lücken auf einen Schlag geschlossen werden, sagt sie zu blue News.
«Ein eigener Tatbestand für das Cyber-Grooming hätte auch eine stärkere Signalwirkung», argumentiert die Expertin; einerseits an die Täter, andererseits auch an die Jugendlichen, Kinder und deren Eltern, «dass eine Kontaktanbahnung zu sexuellen Zwecken nie in Ordnung ist und sie keine Schuld trifft». Zudem ermögliche die Strafbarkeit von Vorbereitungshandlungen der Polizei, früher zu intervenieren.
Noch ist der neue Tatbestand nicht ganz verloren: Falls der Ständerat dem Vorschlag der Rechtskommission nächsten Montag folgt, hat der Nationalrat die Möglichkeit, den Artikel in seiner Debatte auferstehen zu lassen. Zudem behandelt er noch dieses Jahr eine Motion, die ebenfalls eine explizite Strafe für Cyber-Grooming fordert.
Erweiterung der Kinderpornografie
Heute ist es keine Seltenheit, dass Kinder selbst wegen Kinderpornografie verurteilt werden. Denn nach aktueller Gesetzeslage machen sich Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren strafbar, wenn sie selbst Bilder mit sexuellem Inhalt von sich oder anderen minderjährigen Personen aufnehmen oder pornografische Inhalte verbreiten – über 16-Jährige hingegen nicht.
Vielen Kindern und Jugendlichen sei das nicht bewusst, sagt Bernhard Hug. «Wir gehen davon aus, dass viele Strafurteile durch lauter Unwissen verursacht werden.»
Die ständerätliche Kommission will darum die Straflosigkeit erweitern. Das heisst, dass auch Kinder unter 16 Jahren sexuelle Handlungen bildlich festhalten und das Bildmaterial verbreiten dürfen, solange dies nicht finanziell genutzt wird und die Abgebildeten damit einverstanden sind. Zudem darf der Altersunterschied zwischen den Akteuren nicht mehr als drei Jahre betragen.
Regula Bernhard Hug von Kinderschutz Schweiz sieht die Erweiterung kritisch. Das scharfe Strafgesetz sei grundsätzlich nicht das Problem. «Die Kinder und Jugendlichen müssen jedoch darüber aufgeklärt werden, was sie genau dürfen und was nicht.» Sie würde darum eine Präventionskampagne der Erweiterung der Straflosigkeit vorziehen.
Mindeststrafe für Vergehen an unter 12-Jährigen
Die Revision des Sexualstrafrechts sieht auch eine Anpassung des Strafrahmens bei sexuellen Vergehen gegen Minderjährige vor. Der mildere Artikel 187 kommt zum Zug, wenn Minderjährige in sexuelle Handlungen eingewilligt haben.
Die ständerätliche Kommission kommt nun jedoch zum Schluss, dass zwar bei über 12-Jährigen erwartet werden könne, dass sie sich etwas unter einer sexuellen Handlung vorstellen und darum auch ihre Zustimmung dazu geben könnten. Bei unter 12-Jährigen sei dies jedoch nicht der Fall, «da kann man nicht ernsthaft von einer Zustimmung sprechen», sagte Daniel Jositsch (SP/ZH) am Dienstag in der Debatte. Die Mehrheit der Kommission fordert darum bei Vergehen an unter 12-Jährigen mindestens ein Jahr Freiheitsstrafe.
Dagegen sprach sich Andrea Caroni (FDP/AR) aus. «Mindeststrafen müssen sich am mildesten denkbaren Fall ausrichten», argumentierte er, in diesem Fall sei an einen anzüglichen Griff an den Hintern eines elfeinhalbjährigen Buben zu denken. Hier von einer Mindeststrafe von einem Jahr Haft auszugehen, sei nicht angebracht.
Regula Bernhard Hug würde die Einführung einer Mindeststrafe hingegen begrüssen, die aktuelle Gesetzeslage empfindet sie als stossend: «Eine sexuelle Handlung an Kindern wird gleich hart bestraft wie eine schwere Sachbeschädigung», sagt die Fachfrau. Häufig seien es nur Geldstrafen, damit könne ein Kind jedoch nichts anfangen. «Geldstrafen sind keine Antwort auf sexuelle Gewalt an Kindern.»
Bernhard Hug kritisiert jedoch die Altersgrenze von 12 Jahren – diese sei willkürlich. «Eine sexuelle Handlung kann einem 13-jährigen Kind genauso schwere Verletzungen zufügen wie einem 11-jährigen», sagt sie. Die neue Regelung werde dem Einzelfall nicht gerecht.
Laut Regula Bernhard Hug wäre die Abstützung auf die Minderjährigkeit unterstützenswert – sowie eine ähnliche Regelung wie bei der Kinderpornografie, die den Altersunterschied zwischen den Akteuren berücksichtigt.
Nationale Strategie statt «Feuerlösch-Aktivitäten»
Während der Ständerat die Debatte rund um Sexualstrafrecht und Kinderschutz bis am nächsten Montag beiseitelegt, nimmt sich am heutigen Mittwoch der Nationalrat des Themas an. Konkret behandelt die grosse Kammer eine Motion, die von der Stiftungsratspräsidentin von Kinderschutz Schweiz stammt, Nationalrätin Yvonne Feri (SP/AG). Sie fordert die Schaffung einer nationalen Strategie zur Bekämpfung der Cyber-Pädokriminalität.
Momentan fehle solch eine ganzheitliche Strategie, bemängelt auch Regula Bernhard Hug, «es überwiegen Feuerlösch-Aktivitäten».
Für die strafrechtliche Verfolgung der Pädokriminalität sind heute grundsätzlich die Kantone zuständig. Diesen fehlen jedoch die Ressourcen, beispielsweise um verdeckte Ermittlungen durchzuführen. Das stellt auch Chantal Billaud von der Schweizerischen Kriminalprävention in der «SonntagsZeitung» fest: Die Ermittlungen seien im einzelnen Fall sehr aufwendig. «Dafür müsste die Politik mehr Ressourcen sprechen.»
Wo die Schweiz weiter zuwartet, schreitet die EU bereits voran: Sie hat 2020 eine europaweite Strategie zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern online sowie offline vorgelegt.
Der Nationalrat wird am Mittwoch entscheiden, ob eine schweizweite Strategie eine Chance bekommen soll. Lehnt er die Vorlage ab, ist sie vom Tisch. Für Regula Bernhard Hug wäre eine einheitliche Herangehensweise entscheidend, «sonst entwickelt sich das Internet zum Eldorado für Pädokriminelle.»