Femizide in der Schweiz«Es gibt sicher Fälle, in denen Behörden versagen»
Von Maximilian Haase
23.10.2021
Drei Femizide innerhalb einer Woche, bislang 24 in diesem Jahr: Alle zwei Wochen wird eine Frau in der Schweiz aufgrund ihres Geschlechts getötet. Warum werden die Opfer nicht besser geschützt? Simone Eggler von der Hilfsorganisation Brava erklärt, was getan werden müsste.
Von Maximilian Haase
23.10.2021, 18:04
Von Maximilian Haase
Drei Femizide innerhalb kurzer Zeit wühlen die Schweiz auf. So unterschiedlich die Taten in Altstetten ZH, Netstal GL und Rapperswil-Jona SG auch sein mögen – in jedem der Fälle steht die Frage im Raum: Warum konnte das Opfer nicht geschützt werden?
Alle zwei Wochen wird hierzulande eine Frau oder ein Mädchen aufgrund ihres Geschlechts getötet, in diesem Jahr waren es laut dem Dokumentationsportal «Stop Femizid» bereits mindestens 24. Schon länger stehen Forderungen im Raum, der Bund solle diese Taten statistisch gesondert als Femizide erfassen.
Dass genau das aktuell geschieht, lässt Expert*innen hoffen – schliesslich könnte bereits die Statistik einen Beitrag zur Prävention leisten. Doch was muss konkret getan werden, um Femizide in Zukunft verhindern zu können? Simone Eggler von der Hilfsorganisation Brava (ehemals Terre des Femmes) erklärt, wo gehandelt werden müsste.
Nach drei Femiziden innerhalb kurzer Zeit stellt sich die Frage: Warum können Frauen nicht besser geschützt werden?
Es ist leider eine Illusion, hundertprozentigen Schutz herstellen zu können. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Es wäre schön, wenn wir das könnten. Aber es geht darum, bestmöglich zu schützen. Was es dafür braucht, muss laufend gelernt und die Massnahmen verbessert werden.
Wie schwierig ist es, die Ursachen für Femizide zu benennen?
Femizid ist eine Form von Gewalt, die sehr unterschiedliche Ursachen hat – und damit sehr komplex ist. Es tragen viele verschiedene gesellschaftliche und individuelle Faktoren dazu bei, dass es zu einem Tötungsdelikt kommt. Aber: Das Geschlecht spielt bei Femiziden immer eine Rolle. Frauen werden getötet, weil sie Frauen sind oder als Frauen eingeordnet werden. Femizide passieren in einem gesellschaftlichen Kontext, der patriarchal geprägt ist. Damit einher gehen viele Vorstellungen von Macht und Hierarchien. Es ist also ein gesellschaftliches Problem. Generell kann gesagt werden, dass Krisen- und Stresssituationen, beispielsweise auch ökonomische, das Risiko erhöhen.
Zum Beispiel in der Corona-Krise?
Es ist zu befürchten, dass sich die Pandemie akut, aber auch mittel- und längerfristig negativ bezüglich Gewalt auswirkt. Es kam dieses Jahr zu einem Anstieg der Femizide – und das muss unbedingt untersucht werden. Corona hat vielen Menschen wirtschaftliche Probleme, aber auch andere Ängste und Sorgen beschert. Das sind natürlich Risikofaktoren, auch für Femizide.
Spielen die ökonomischen Gründe auch eine Rolle bei der Prävention?
Zur Person
Brava / Simone Eggler
Simone Eggler, Verantwortliche Politik bei Brava (ehemals Terre des Femmes Schweiz) und Co-Koordination Netzwerk Istanbul Konvention
Sozialpolitische Überlegungen sind für die Verhinderung dieser Taten wichtig. Unsichere Lebenssituationen spielen mit hinein, nicht selten geschehen Femizide in einem prekären Umfeld oder Umbruchsituationen. Wir kennen Fälle, in denen ein Familienvater aufgrund von Arbeitsplatzverlust die Familie tötet und danach Suizid begeht. Aber auch da herrscht – wie immer bei Femiziden – die Vorstellung, dass man das Recht hat, die Person umzubringen. Das ist eine geschlechterspezifische Frage. Und da müssen wir stark bei der Bildung ansetzen.
Sehen Sie Bildung als Schlüssel zur Verhinderung von Femiziden?
Wir können Femizide nur verhindern, wenn wir das Problem breit und gesellschaftlich tiefgreifend angehen. Das Wichtigste ist die Bildung. Sprich: Prävention beginnt schon früh in der Kindheit. Man muss verhindern, dass zukünftige Generationen solche Gewalt ausüben. Und das ist immer am schwierigsten zu vermitteln. Es braucht dafür in erster Linie Ressourcen und finanzielle Mittel sowie eine entsprechende Anpassung der Bildungsinhalte zum Thema Geschlecht, aber auch Umgang mit Stress und Konflikten. Um Erwachsene zu erreichen, braucht es Sensibilisierungs- und Informationskampagnen für unterschiedliche Zielgruppen. Nachhaltigkeit ist dabei entscheidend. Dafür muss man letztlich an allen Enden ansetzen.
Was ist aber mit jenen Tätern, von denen heute Gefahr ausgeht?
Natürlich braucht es auch sehr konkrete Massnahmen, um Femizide zu verhindern. Und zwar in den Generationen, in denen die obligatorische Bildung sozusagen nichts mehr ausrichten kann. Es gibt in der Schweiz schon einige Ansätze, so gibt es beispielsweise überall Kontakt- und Annäherungsverbote oder die Möglichkeit für Electronic Monitoring. Diese Instrumente und deren Umsetzung müssen jedoch laufend evaluiert und verbessert werden. Doch sie können nur funktionieren, wenn die Zusammenarbeit zwischen allen Akteur*innen klappt. Es braucht eine enge Koordination zwischen Polizei, Gerichten, Beratungsstellen, Frauenhäusern und allen, die sonst involviert sind. Ein gemeinsames Vorgehen und laufende Kommunikation, auch über die Kantonsgrenzen hinaus, ist in solchen Fällen sehr wichtig.
Bei Fällen wie dem Femizid kürzlich in Altstetten scheint dies nicht funktioniert zu haben – der mutmassliche Täter soll schon vor der Tat Gewalt gegen seine Frau ausgeübt haben. Weshalb können solche Taten nicht verhindert werden?
Was in diesem konkreten Fall schiefgelaufen ist, kann ich nicht sagen, ich kenne die Details nicht. Aber natürlich muss alles Menschenmögliche getan werden, dies zu verhindern. Es gibt sicher Fälle, in denen Behörden versagen – und gerade deshalb muss aus allen Fällen gelernt werden. Grundsätzlich geht es darum, dass in Gewaltsituationen möglichst früh richtig reagiert wird – und vor allem konsequent. Gerade in der Arbeit mit schon bekannten Tatpersonen, bei denen sich schon früher eine Gewaltsituation aufgebaut hat. Da muss unbedingt mehr gemacht werden.
Die Arbeit mit Tatpersonen muss systematisiert und ausgebaut werden. So müssen Tatpersonen mehr gezwungen werden, in sogenannte Lernprogramme zu gehen. Die Situation ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich – manche Kantone stehen besser, manche schlechter da. Gerade die freiwillig zugänglichen Beratungsangebote für Gewaltausübende werden heute zu wenig oder gar nicht finanziert.
Zu welchen Problemen kann das führen?
An solche niederschwelligen Angebote kann man sich wenden, wenn man merkt, dass man ein Problem hat und gewalttätig wird. Wenn diese Menschen bereit sind, sich Hilfe zu holen – dann kann es nicht sein, dass sie entweder kein Angebot haben oder dafür noch bezahlen müssen. Oder sie kennen das Angebot nicht, weil es kein Geld für Informationskampagnen gibt. Das ist ein ganzer Rattenschwanz. Es fehlt an allem. Das muss unbedingt geändert werden.
Was kann präventiv für Frauen getan werden, die Opfer einer Gewalttat zu werden drohen?
Menschen, die Gewalt erleben oder gefährdet sind, können sich je nach Gefährlichkeit der Situation direkt an die Polizei, an ein Frauen- oder Mädchenhaus oder an eine Beratungsstelle wenden. Dort erhalten sie spezialisierte Hilfe für die akute Situation, aber auch für längere Zeit. Jeder Fall wird dahingehend angeschaut, was die Person braucht und was gemacht werden muss, um die Situation zu entschärfen. Diese Angebote sind gratis.
Kann man aus geschehenen Taten lernen?
Die Fälle müssen möglichst zeitnah analysiert werden. Daraus muss man dann die richtigen Schlüsse ziehen: Was ist schiefgelaufen? Was hat dazu geführt? Wieso konnte diese Person diese Tat ausüben? Aus all den einzelnen Fällen müssen wir lernen – und das wird im Moment noch nicht so gemacht. Für 2019 bis 2024 gibt es neu ein Monitoring des Bundes zu Tötungsdelikten – doch es darf nicht bis 2025 dauern, bis daraus gelernt wird. Zudem muss ein solcher Lernprozess in Zukunft institutionalisiert werden.
Es existiert also kein Königsweg, um Femizide künftig zu verhindern?
Es gibt zusammenfassend auf die Frage nach der Verhinderung der Femizide keine knappe Antwort. Ausser vielleicht: Geld. Es wird nicht gehen ohne ausreichend finanzielle Ressourcen für all die nötigen Massnahmen in Prävention, Beratung, Schutz und Strafverfolgung – diese Forderung müssen wir leider immer mantramässig wiederholen.