Ein Jahr Flucht aus der Ukraine Gekommen, um zu bleiben?

dpa/amo

22.2.2023 - 05:20

Ein Kind, das mit seiner Familie aus der Ukraine geflüchtet ist, erreicht am 9. April 2022 Polen. Viele Geflüchtete sind nach wie vor nicht zurückgekehrt. 
Ein Kind, das mit seiner Familie aus der Ukraine geflüchtet ist, erreicht am 9. April 2022 Polen. Viele Geflüchtete sind nach wie vor nicht zurückgekehrt. 
Keystone 

Das Nachbarland Polen hat mehr Menschen aus der Ukraine aufgenommen als jedes andere EU-Land. Wie in der Schweiz schlagen dort manche Kriegsflüchtlinge nun langsam zarte Wurzeln. Eine Rückkehr in die Heimat ist für viele vorerst keine Option.

In ihrer Änderungsschneiderei in Warschau legt Marina Schewtschenko einen rosa Ärmel unter die Nähmaschine. «Manchmal kann ich selbst gar nicht fassen, wie gut wir es geschafft haben», sagt die 43-jährige Ukrainerin. Am 17. März, kurz nach dem Beginn des russischen Angriffs auf ihr Heimatland, war sie mit ihrem 15-jährigen Sohn und der 9-jährigen Tochter aus der ostukrainischen Stadt Dnipro nach Polen geflohen. «Ich wollte meine Kinder nicht traumatisieren. Deshalb habe ich nicht in der Ukraine ausgeharrt, bis sie Dnipro bombardieren.» Zunächst kamen sie in einem Hostel unter, dann lebten sie vier Monate beengt in der Wohnung einer Polin.

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Ein Jahr nach Kriegsbeginn haben Marina und ihre Kinder in Polen Fuss gefasst. Die Schneiderin führt ihr eigenes Änderungsatelier, ihr Sohn macht eine Ausbildung zum Koch, die Tochter besucht eine polnische Grundschule. Eine Rückkehr in die Ukraine plant Marina nicht. Sie sagt: «Polen ist in der EU. Wenn meine Kinder hier ihre Ausbildung machen, ist das international anerkannt.»

«‹Bald fahre ich nach Hause› – diesen Satz hören wir immer seltener»

So wie Marina geht es vielen Ukraine-Flüchtlingen in Polen – und genauso Deutschland. Je länger der Krieg dauert, desto mehr sehen sie ihre Perspektiven in dem Land, das ihnen Zuflucht geboten hat.

Deutschland hat nach Polen die meisten Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Laut einer repräsentativen Umfrage wollen 37 Prozent der Geflüchteten für immer oder mehrere Jahre in Deutschland bleiben, 34 Prozent von ihnen bis Kriegsende, wann immer das sein wird. 27 Prozent der mehrheitlich weiblichen Flüchtlinge sind noch unentschieden. Und nur 2 Prozent planen, Deutschland innerhalb eines Jahres wieder zu verlassen.

«"Bald fahre ich nach Hause» – diesen Satz hören wir immer seltener», sagt Olena Senyk, die in Warschau für die Stiftung Ukrainisches Haus die Abteilung für Familienhilfe leitet. Kurz nach Kriegsbeginn sei es vor allem um die Grundbedürfnisse der Flüchtlinge gegangen: Essen, Unterkunft, Kleidung. «Inzwischen bieten wir auch Berufsberatung und Sprachkurse an.»

Rückhalt in Polens Bevölkerung weiterhin gross 

Seit Kriegsbeginn registrierte das UN-Flüchtlingswerk UNHCR mehr als acht Millionen Ukraine-Flüchtlinge in Europa. Einen Status als Schutzsuchende haben demnach gut 4,8 Millionen, davon mehr als 1,5 Millionen in Polen. Allerdings räumt auch das UNHCR ein, dass die Angaben zur Zahl der Schutzsuchenden ungenau sind, da auch Mehrfachmeldungen in mehreren Ländern erfasst werden. Deutschland hat etwas mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine aufgenommen. In der Schweiz haben aktuell 78'047 Ukrainerinnen und Ukrainer den Schutzstatus S erhalten. 

Obwohl Polen mit seinen knapp 38 Millionen Einwohnern einer verhältnismässig grossen Zahl von Ukrainern Schutz bietet, ist der Rückhalt für die Flüchtlinge in der Gesellschaft weiterhin hoch. Das zeigt eine Umfrage von Soziologen der Universität Warschau von Januar. Demnach vertreten 87 Prozent der Befragten die Ansicht, dass ihr Land den Ukraine-Flüchtlingen helfen muss. Und mehr als ein Drittel (37 Prozent) findet, Polen solle den Flüchtlingen die dauerhafte Ansiedlung erlauben.

Polen gewährt den ukrainischen Flüchtlingen kostenlosen Zugang zum Gesundheitssystem, ausserdem erhalten sie ein einmaliges Begrüssungsgeld und haben Anrecht auf monatliches Kindergeld in Höhe von 110 Euro pro Kind. Mehr gibt es nicht. 

«Vielleicht hat er Angst, noch einmal neu anzufangen»

Nicht allen Ukraine-Flüchtlingen in Polen fällt der Neuanfang so leicht wie Marina, der Schneiderin. Besonders Ältere tun sich schwer. Der Unternehmer Wadym Onischtschuk, der mit anderen Privatleuten eine Sammelunterkunft am Stadtrand von Warschau betreibt, sagte: «Derzeit leben bei uns 1100 Menschen. Für viele sind wir nur Durchgangsstation, aber 600 kommen einfach nicht weg.»

Zu den Dauergästen gehört Wladimir, ein pensionierter Koch aus der Gegend um Cherson. «Mein Haus ist zerstört, wohin soll ich zurück?» fragt der 65-Jährige. Er will weiter, nach Deutschland, dort seien die Bedingungen besser, sagt er. Trotzdem hängt Wladimir seit drei Monaten in der Sammelunterkunft fest. Warum er nicht nach Deutschland geht? Er selbst findet keine Antwort. «Vielleicht hat er Angst, noch einmal neu anzufangen», sagt eine freiwillige Helferin leise.

dpa/amo