Politologe zum Stadt-Land-Graben «Die SVP ist zurück»

Von Anna Kappeler

5.8.2021

SVP-Parteipräsident Marco Chiesa greift in seiner 1.-August-Rede die Städte an.
SVP-Parteipräsident Marco Chiesa greift in seiner 1.-August-Rede die Städte an.
Screenshot: Youtube-Video von Chiesa

Die SVP hat ein neues Feindbild: rot-grüne Städte. Das stellt Parteichef Marco Chiesa klar. Was hat es damit auf sich? Und lassen sich so Wahlen gewinnen? Der Politikexperte Claude Longchamp analysiert.

Von Anna Kappeler

5.8.2021

Nein, feierlich wäre anders. Die 1.-August-Rede von Marco Chiesa erhitzt die Gemüter. Und hallt nach. Es sind ungewohnt harsche Worte, die der SVP-Parteipräsident wählt. In seiner Videobotschaft zum Nationalfeiertag schiesst sich Chiesa auf die «Schmarotzer-Politik» in den Städten ein.

Chiesas Ärger gilt den «Luxus-Linken» und den «Bevormunder-Grünen». Diese würden anderen vorschreiben wollen, wie sie zu leben hätten, behauptet der Parteipräsident.

Doch: Wie kommt er auf eine solche Aussage? Was bringt der SVP dieses Ausspielen von Stadt gegen Land? Und was sagt dieser verbale Angriff über die Form der grössten Partei dieses Landes aus? Einschätzungen des Politologen Claude Longchamp, den wir telefonisch in seinen Ferien erreichen.

Herr Longchamp, warum wählt die SVP die Städte als Feindbild?

Die SVP war bis zu den Wahlen 2019 eine erfolgsverwöhnte Partei. Zwar stagnierte sie auch dann schon seit zehn Jahren, aber mit 29 Prozent auf einem sehr hohen Niveau. Die Wahlen 2019 aber markierten einen Einbruch, von dem sie sich nur langsam erholt. Seit diesem Jahr bewirtschaftet die SVP nun Themen wieder sehr strategisch: gegen Beizen-Schliessungen, für die Aufhebung der Corona-Massnahmen. Nur: So richtig gezogen hat das nicht, wie die Aargauer Wahlen zeigten. Und dann kam der 13. Juni und das Nein zum CO₂-Gesetz. Das gab der Partei die Steilvorlage für das jetzige Städte-Thema.

Weil die SVP gesehen hat, dass Abstimmungen auf dem Land gebodigt werden können?

Genau. Und: Der Mechanismus der SVP, sich auf etwas oder jemanden einzuschiessen, ist nicht neu. Früher waren es die Flüchtlinge, 2019 war es der politische Gegner, der als Made im Apfel dargestellt wurde.

Der Apfel-Maden-Schuss ging nach hinten los. Für diese Anlehnung an Nazi-Propaganda gab es selbst aus den eigenen Reihen Kritik.

Zur Person
Claude Longchamp, Politologe, spricht mit ein Journalist waehrend der sogenannten
KEYSTONE

Claude Longchamp ist Historiker und Politikwissenschaftler. Bis April 2017 war er Geschäftsführer des Forschungsinstituts gfs.bern. Seit vielen Jahre analysiert er als Experte  die Abstimmungen, früher etwa beim Schweizer Fernsehen.

Ja, doch der Mechanismus wiederholt sich. Dieser Mechanismus besteht darin, mit starken Bildern, sprich Vorurteilen, zu sprechen. Die SVP hat ein Gespür dafür, welche Themen latent politisch aktuell sind. Diese weidet sie zu Mobilisierungszwecken aus.

Könnte auch der Stadt-Land-Graben-Schuss nach hinten losgehen? Urbane SVP-Sektionen haben sich bereits beschwert.

Die SVP will die Hoheit über die Medien wieder zurückgewinnen. Diesen ersten Punkt hat sie mit dem neuen Thema schon einmal geschafft, sonst würden wir beide nun nicht darüber sprechen. Der Mechanismus der Provokation funktioniert noch immer. In einer zweiten Stufe versucht die SVP, die Bürgerlichen hinter sich zu bringen. Die SVP will wieder zum Leader der Bürgerlichen werden. Als dritte Stufe greift die SVP über die Städte ganz klar Rot-Grün an. Sie will so die Wahlen gewinnen. Und sie wird nun einen Strauss von Forderungen stellen, mit dem sie politische Verbündete gewinnen kann.



Der Stadt-Land-Graben hätte Potenzial, der SVP Wahlerfolge zu bringen?

Ich würde diese Kampagne nicht unterschätzen. Aus der inneren SVP-Sicht hinaus macht diese Sinn. Nach dem überraschenden Sieg beim CO₂-Gesetz bewirtschaften sie das Thema Stadt-Land-Graben konsequent weiter. Hier hat es die SVP geschafft, trotz «Einer gegen alle»-Ausgangslage zu gewinnen. Das ist die Lieblingsposition der SVP. Die Partei kann sich so als Volksversteherin brüsten. Wohlgemerkt: Was gut ist für die SVP, muss nicht zwingend gut sein für die Schweiz.

Die SVP kommt gerade aus ihrem Formtief hinaus?

Die Umkehr hat schon im Frühling begonnen. Das Ja zum Verhüllungsverbot war für die SVP ein wichtiger Sieg. Auch ihre Anti-Corona-Haltung kommt bei Teilen der Bevölkerung gut an. Und jetzt im Juni gewannen sie auch noch das CO₂-Gesetz. Nach der Klima-Wahl 2019 ist die allgemeine Stimmung mit dem CO₂-Gesetz-Nein nach rechts gekippt. Die SVP ist zurück. Und dies in einer Zeit, in der die FDP in einer inhaltlich wie personell schwierigen Suchposition ist, und die CVP noch an ihrer Fusion mit der BDP nagt.

Umfrage
Herrscht ein Graben zwischen der Stadt und dem Land?

Einverstanden. Doch: Die SVP fördert damit eine Spaltung der Gesellschaft. Wohin das führen kann, konnten wir in den USA unter Trump beobachten. Ist das nicht gefährlich für die Schweiz?

Das ist die Sicht der Gegner. Nicht vergessen sollten wir: Seit mehreren Monaten gibt es in der Schweiz eine ausserparlamentarische, neue Bewegung: die Corona-Gegner. Und diese mobilisieren sich regelmässig zu Demos. Das ist ein neues Phänomen. Und es funktioniert. Innert eines Jahres schaffte es diese Bewegung, von einem totalen Aussenseiter zu einem Faktor in der Schweizer Politik zu werden.

Die SVP ist die einzige Partei, die realisiert, wo Wählerpotenzial brachliegt?

Ob Wählerpotenzial, bin ich noch nicht sicher. Aber ich bin sicher, da ist ein starker Politisierungsprozess in Gange. Möglicherweise politisiert dieser Personen, die normalerweise nicht wählen gehen. Die Corona-Massnahmen kommen ja nicht aus dem Parlament heraus, sondern der Staat greift damit in unseren Alltag ein. Und das politisiert. Sehe ich mir die Geschichte der Deutschschweizer SVP an, hatte diese immer eine Doktrin: keine Partei rechts von uns. Jetzt will die SVP verhindern, dass mit den Corona-Gegnern eine neue Partei entsteht.

«Sehe ich mir die Geschichte der Deutschschweizer SVP an, hatte diese immer eine Doktrin: Keine Partei rechts von uns.»

Kommen wir noch kurz auf Parteichef Marco Chiesa zu sprechen: Bisher lautete die Frage: Wo ist Chiesa? Nun heisst die Frage: Was ist los mit Chiesa, dass er so eine 1.-August-Rede hält?

Von Chiesa war man sich so einen Ton bisher wirklich nicht gewöhnt. Diese Rede ist eher auf der Linie Aeschi (des Fraktionspräsidenten, Anm. d. Red.). Bei Chiesa hatte ich bisher das Gefühl, er versucht alles, damit die SVP eine Regierungspartei bleibt.

Ist das ein weiterer Schritt zur Nach-Blocher-Ära?

Vieles deutet darauf hin. Klar ist: Figuren wie Martullo, Aeschi und Matter sind an der Spitze und erstarken zusehends. Meine Theorie: Sie haben Chiesa beackert, bis auch er mitmacht. Ohne ihn als Parteipräsidenten geht es nicht.