Jeder Dritte ist konfessionslosDer Kirche laufen die Schäfchen davon
Von Gil Bieler
16.2.2021
Die Schweiz, ein Land von Konfessionslosen: Die Katholische und die Reformierte Kirche verlieren massiv an Mitgliedern. Die Erklärungen dafür reichen von Missbrauchsfällen bis hin zum Yoga.
Die Katholische Kirche zählte 2019 über 31'700 Austritte, so viele wie noch nie. Und auch bei der Evangelisch-reformierten Kirche hält der Negativtrend an: Ihr Anteil an der Bevölkerung ist auf 22,5 Prozent gesunken, ein neuer Tiefstwert.
Eine andere Gruppe wächst dagegen konstant an: die Konfessionslosen. 2019 gehörte bereits fast ein Drittel keiner Religion mehr an, wie die neueste Volkszählung des Bundes zeigt. Nach den Katholiken sind die Konfessionslosen bereits die zweitgrösste Gruppe im Land, noch vor den Reformierten. Dies ist umso bemerkenswerter, als vor 50 Jahren noch fast jede und jeder im Land einer der beiden grossen Landeskirchen angehörte.
«Natürlich ist diese Entwicklung nicht positiv», sagt Dominic Wägli, Leiter Kommunikation bei der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). «Auch die Stellung der Kirche ergibt sich – wie bei jeder Institution – über die Anzahl Mitglieder.» Wobei dies nicht das einzige Kriterium sei, betont er: Es gehe auch um die Qualität der Dienstleistungen für die Gläubigen.
Zu den Gründen für die Austrittswelle kann Wägli nur Vermutungen äussern. Das Engagement der Kirche für die Konzernverantwortungsinitiative im letzten Jahr sei sicher nicht bei allen gut angekommen. «Da hat manch einer gesagt: ‹Das ist nicht mehr meine Kirche.›» Ganz generell habe die Kirche mit einer wachsenden Konkurrenz zu kämpfen: «Die Kirche hat nicht mehr zwingend die Hoheit über das Spirituelle.» Ob beim Meditieren oder auf Waldspaziergängen, heute fänden die Leute auf verschiedenen Wegen ein spirituelles Erlebnis.
Austrittskandidat: Männlich, jung, gut gebildet
Etwas mehr darüber, wer der Kirche den Rücken kehrt, weiss man auf katholischer Seite. Urs Winter-Pfändler forscht am Schweizerischen Pastoralsoziologischen Institut (SPI) in St. Gallen, das von der Katholischen Kirche getragen wird, zu diesem Thema. Er sagt: «Der typische Austrittskandidat ist männlich und zwischen 25 und 35 Jahre alt.» Austretende hätten ausserdem tendenziell eine höhere Ausbildung absolviert und würden im städtischen Raum leben.
Ein Grund, weshalb gerade in diesem Alter der Kirchenaustritt erfolgt, könnte die Kirchensteuer sein: «Man verdient nach der Ausbildung seinen ersten Lohn und stört sich an dieser Abgabe», sagt der Theologe und Psychologe. Hinzu komme, dass man in diesem Alter oft noch kinderlos sei, was den Schritt zum Austritt ebenfalls erleichtere.
Die Gesellschaft sei generell säkularer und individualistischer geworden, sagt auch Winter-Pfändler: «Man fühlt sich einer Organisation nicht mehr so zugehörig, ob das nun die Kirche oder ein Verein ist.» Dies sei eine weitere Herausforderung für die Kirche.
Und auch die Negativschlagzeilen rund um die Katholische Kirche haben einen Effekt: So gab es 2009/10, als die ultrakonservative Piusbruderschaft von sich reden machte, einen markanten Anstieg bei den Austritten. Und natürlich sind da die zahlreichen Fälle von sexuellem Missbrauch durch Geistliche, die in verschiedenen Ländern ans Licht kommen. «Die Missbrauchsfälle sind schlimm für die Kirche», sagt Winter-Pfändler mit Blick auf die Austritte.
In den letzten drei Jahren gab es wiederum eine Austrittswelle. Die Diskussionen um die Rolle der Frau in der Kirche und um den Zugang wiederverheirateter Geschiedener zum Empfang der heiligen Kommunion hätten die Kirche Mitglieder gekostet, sagt Winter-Pfändler. Was in dieser Aufzählung fehlt: Im letzten Jahr diskutierte die Schweiz wieder einmal intensiver über die «Ehe für alle», ebenfalls ein kontroverses Thema.
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Dass die Kirche es allen recht machen sollte, um ihre Mitglieder zu halten, glaubt der Theologe aber nicht: «Die Kirche muss sich treu bleiben. Sie könnte ihre Position aber besser erklären.» Das grössere Problem sei für viele Kirchenangehörige die fehlende Glaubwürdigkeit: Wasser predigen und Wein trinken, das komme nicht gut an. «Gerade bei den Missbrauchsfällen hat die Kirche Fehler gemacht.» Diese Taten müssten anerkannt und aufgearbeitet werden.
Das Evangelium als «Alleinstellungsmerkmal»
Über die Kirchenaustritte macht sich auch Rita Famos Gedanken, die seit Anfang Jahr als erste Frau an der Spitze der Reformierten Kirche amtet. Bei SRF brachte sie auf den Punkt, welche Frage sie umtreibe: «Wie können wir Mitglieder an unsere Kirche binden, in einer Zeit, in der das nicht mehr selbstverständlich ist?»
«Wir müssen unser Alleinstellungsmerkmal mehr herausstreichen», findet EKS-Sprecher Dominic Wägli. «Bei uns wird das Evangelium verkündet, das den Menschen Hoffnung geben soll.» Das könne Yoga etwa nicht bieten. Der Unterschied zu anderen spirituellen Angeboten zeigt sich auch in der Bedeutung, die der Bundesrat den Kirchen beimisst. So sind aktuell immer noch Gottesdienste mit bis zu 50 Personen erlaubt, wobei einzelne Kantone diese Limite tiefer ansetzen. Yogastudios dagegen sind geschlossen.
Weitere Ziele der neuen EKS-Präsidentin lauten: Die Jugendlichen besser erreichen und die Digitalisierung fördern, wobei die Corona-Pandemie hierbei als Beschleuniger wirkt. «Auch die Kirche musste da umstellen», sagt Wägli. Über Social Media und andere virtuelle Kanäle könne man gerade die jungen Menschen besser erreichen. Auch die traditionellen Kirchengänger*innen hätten gut zu Online-Gottesdiensten gefunden, findet er: «Wir mussten uns ja alle umgewöhnen in dieser Pandemie.»
Aber können Online-Angebote den gemeinsamen Gottesdienst in der Kirche wirklich ersetzen? «Nicht in allen Bereichen», räumt Wägli ein. Trotzdem rate die EKS bei physischen Gottesdiensten sogar zur Zurückhaltung, andere Formate – online oder etwa Hausbesuche eines Pfarrers – seien genauso zu berücksichtigen. Eines steht für Wägli fest: «Die Corona-Pandemie wird für die Kirche zum Lackmustest.»
Wie sich die Zahl der Kirchenaustritte im Covid-Jahr 2020 entwickelt, kann noch nicht gesagt werden. Urs Winter-Pfändler sieht aber Anzeichen, dass weniger Gläubige als noch 2019 der Katholischen Kirche den Rücken kehren. «In der Pandemie gab es viele Schicksalsschläge. Vielleicht hat der eine oder die andere dabei gesehen, dass die Kirche auch Gutes tut.»