Bergbauer zu gelockertem Wolfsschutz «Inzwischen ist das Problem auch bei den Städtern angekommen»

Von Anna Kappeler

30.9.2022

Schützen oder schiessen? Alle Augen sind auf den Wolf gerichtet

Schützen oder schiessen? Alle Augen sind auf den Wolf gerichtet

Die Schweiz diskutiert wieder über den Wolf. Soll sein Schutz gelockert werden, wie es das neue Jagdgesetz vorsieht? blue News besucht vor dem Abstimmungssonntag einen Schafzüchter und einen Umweltschützer.

26.09.2020

Der Wolf soll neu auch präventiv geschossen werden, beschliesst der Ständerat. Obwohl das Stimmvolk dazu vor zwei Jahren Nein gesagt hat. Was ein Bergbauer und ein Naturschützen davon halten.

Von Anna Kappeler

Es ist ein Paradigmenwechsel: Künftig soll der Wolf auch dann geschossen werden, wenn er noch nichts angestellt hat. Also weder ein Schaf gerissen noch sonst ein Tier oder einen Menschen gefährdet hat. Das will der Ständerat. Und zwar deutlich mit 31 zu sechs Stimmen bei vier Enthaltungen.

Dazu muss man wissen: Im aktuellen Gesetz ist eine Regulierung des geschützten Wolfs erst dann erlaubt, nachdem «grosser Schaden» oder eine «erhebliche Gefährdung» durch das Raubtier entstanden sind. Neu sollen von September bis Januar nun also präventive Abschüsse erlaubt sein – auch von ganzen Rudeln.

Und: Möglich ist das ohne zeitlichen und räumlichen Bezug zu einem Schaden. Der Wolf soll damit rechtlich dem Steinbock gleichgestellt werden. Schiessen trotz Schutz folglich.

Nicht ganz ohne ist diese Gesetzesrevision auch deshalb, weil das Stimmvolk vor zwei Jahren das Jagdgesetz mit 51,9 Prozent abgeschossen hatte. Das Volk hat sich damit gegen präventive Abschüsse von einzelnen Wölfen sowie gegen die vorgesehene legitimierte Regulierung von Wolfsrudeln ausgesprochen.

Enttäuschung bei Umweltverbänden

Entsprechend prompt kommt die Kritik am ständerätlichen Entscheid. «Wir sind enttäuscht vom Entscheid», sagt Urs Leugger von Pro Natura. Die Naturschutzorganisation hat sich im Vorfeld der geplanten Gesetzesänderung mit neun anderen Verbänden zusammengeschlossen. Dazu gehören etwa die Bauern, die Jäger, die Förster, die Gruppe Wolf Schweiz, die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete SAB und der WWF.

«Präventive Eingriffe machen nur Sinn, wenn sie einen engen zeitlichen und räumlichen Bezug zu einem Schaden haben», sagt Leugger. Alles andere sei willkürlich.

Bergbauer will fast alle Wölfe abschiessen

Anders klingt es bei Direktbetroffenen. Der Tessiner Bio-Bergbauer Giorgio Falcone befindet sich gerade auf der Alp oberhalb seines Wohnortes Molare, wo seine Kühe sowie die von befreundeten Bauern den Sommer verbracht haben. Er entfernt die Zäune vom Alpsommer und sagt am Telefon: «Der Entscheid des Ständerats ist ein Schritt in die richtige Richtung.» Doch er sei nicht genug.

«Ginge es nach mir, bräuchten wir ein Gesetz, das den Abschuss fast aller Wölfe erlaubt. Nur wenn die Wolfspopulation stark reduziert wird, können wir das Problem lösen.» Die Wölfe würden sich inzwischen so schnell verbreiten, anders nütze es nichts.

So schnell breitet sich der Wolf aus

In der Schweiz leben rund 180 Wölfe und 17 Rudel. Die Daten nennt der Bundesrat Ende August. Angriffe auf Nutztiere mehren sich, so die Landesregierung. Diesen Sommer ist es auch zu Konfliktsituationen mit Menschen gekommen. Und: Bis Ende 2025 könnten schon 50 Rudel und rund 350 Wölfe hierzulande leben. Das schreibt das SRF mit Verweis auf die Stiftung Kora, die sich mit dem Wolfsmonitoring in der Schweiz befasst. (aka)

Der Wolf sei im Tessin zur existenziellen Bedrohung für Bergbauern geworden. Schaf- und Geissen-Bauern im Tessin hätten ihren Job wegen des Wolfes aufgeben müssen. «Diesen Sommer hat der Wolf beim Pizzo Molare 24 Schafe eines Kollegen von mir gerissen – und das nur 30 Minuten Fussmarsch von meiner Alp entfernt», sagt Falcone.

Für ihn bedeute das: Je weniger Nutztiere noch auf den Alpen seien, desto gefährdeter seien sie durch den Wolf. Dieser habe weniger Auswahl, aber nicht weniger Hunger. Auch Kälber und vereinzelt Kühe seien inzwischen nicht mehr sicher.

«Ich weiss nicht, ob ich nächsten Sommer wieder auf die Alp kann.» Zwar könnte Falcone, so sagt er, für Herdenschutzhunde finanzielle Hilfe beantragen. «Doch weil diese Hunde manchmal auch Wanderer angreifen, bräuchte ich einen zusätzlichen Senn, der auf die Hunde aufpasst.» Das wiederum gehe finanziell nicht auf.

Im Kanton Tessin sind diesen Sommer laut Falcone «schätzungsweise 200 Tiere gerissen» worden. Und doch dürfe man keinen einzigen Wolf abschiessen. «Nach einem Riss muss ein Analyst kommen und nachweisen, dass der Riss von einem Wolf stammt.» Erst nach mehreren Rissen vom selben Tier dürfe dieser geschossen werden. Dieses Jahr seien die Wölfe jedoch im Rudel unterwegs gewesen. Heisst: Es reichte nicht, um Wölfe schiessen zu können, weil dem einzelnen Tier nicht genug Risse nachgewiesen werden konnten, so Falcone. «Das ist absurd.»

Ist neues Gesetz trotz Volks-Nein problematisch?

Bleibt die Sache mit der Volksabstimmung. Und ob es demokratiepolitisch nicht problematisch ist, den Volkswillen nur zwei Jahre später zu ändern. Dazu sagt Leugger von Pro Natura: «Ja, wir waren bei der Abstimmung zur Jagdgesetzrevision für ein Nein.» Er befürworte nach wie vor eine konfliktarme Koexistenz mit dem Wolf. «Im Bewusstsein, dass es konfliktfrei nicht geht.»

Für ihn ist der Meinungsumschwung seines Verbands nicht heikel: Die meisten Wölfe verursachten keine Probleme, also sollten sie auch nicht geschossen werden. «Aber: Zeichnet sich ein problematisches Verhalten bei einem Wolf ab – dass er beispielsweise geschützte Nutztiere oder mehrfach Grossvieh angreift – dann muss man korrigierend eingreifen können. Und zwar schnell, innert weniger Tage.»

Demokratiepolitisch «inakzeptabel» sei hingegen der Beschluss des Ständerats, eben weil damit Wölfe auch ohne direkten Schadensbezug geschossen werden dürften.

Bergbauer Falcone bleibt entspannt. Er sagt: «Ich sehe kein Problem darin, dass eine Volksabstimmung korrigiert werden muss. Wenn sich ein Problem binnen zwei Jahren verschärft, braucht es eine Anpassung des Gesetzes.»

Das Resultat sei vor zwei Jahren schon knapp gewesen, vielleicht würde es nun anders ausfallen. «Dass sich das Problem mit dem Wolf verstärkt hat, ist inzwischen auch bei vielen Städtern angekommen.»

Pro Natura hingegen hofft, dass die grosse Kammer in der Wintersession als Zweitrat korrigierend eingreift. Sodass das neue Gesetz – nach ihrem Gusto – auf den Alpsommer 2023 in Kraft tritt.