Sterbenskranke KinderDarum ist ein Fall Archie in der Schweiz unwahrscheinlich
Von Lia Pescatore
4.8.2022
In Grossbritannien kämpfen regelmässig Eltern gegen Ärzte um lebenserhaltende Massnahmen sterbenskranker Kinder. Eine Rechtsprofessorin erklärt, warum solche Szenarien in der Schweiz ungewöhnlich sind.
Von Lia Pescatore
04.08.2022, 17:44
Lia Pescatore
«Bis zum bitteren Ende» haben die Eltern um das Leben ihres Sohnes Archie gekämpft. Der Zwölfjährige liegt seit April wegen schwerer Hirnverletzungen in einem Londoner Spital im Koma.
Die Ärzte wollten schon seit Monaten die lebenserhaltenden Massnahmen beenden, die Eltern haben sich über alle Instanzen dagegen gewehrt – und verloren. Gestern stellte sich auch die letzte, höchste Instanz auf die Seite der behandelnden Ärzt*innen. Archie soll sterben. Dies sei im Interesse des Jungen, lautet die Begründung. Damit sind die letzten Stunden seines Lebens angebrochen.
Schweizer Eltern zogen noch nie vor Bundesgericht
Dass in Grossbritannien ein Gericht über das Schicksal eines todkranken Kindes entscheidet, ist keine Ausnahme. In den vergangenen Jahren machten zum Beispiel die Fälle von Alfie Evans und Charlie Guard Schlagzeilen. In beiden Situationen wehrten sich die Eltern vor Gericht gegen die von den Ärzten empfohlene Beendigung der lebenserhaltenden Massnahmen.
Ist ein solches Szenario auch in der Schweiz möglich? «Es wäre ungewöhnlich, aber nicht auszuschliessen», sagt Regina E. Aebi-Müller, Professorin für Privatrecht an der Universität Luzern. Der Gang vor Gericht stehe allen grundsätzlich offen, wenn es zu einer «erheblichen Uneinigkeit» zwischen Ärzteschaft und Patient – oder in diesem Fall den vertretungsbefugten Eltern – komme.
Sie kenne aber keinen vergleichbaren Fall, der vor einem Gericht auf Bundesebene ausgetragen worden sei.
«Wenn eine Behandlung aussichtslos ist, hat man kein Anrecht darauf.»
Regina Aebi-Müller
Professorin für Privatrecht
Doch welche Rechte haben Eltern eines totkranken Kindes in der Schweiz? «Die Entscheidungshoheit darüber, welche Behandlung angewandt wird, liegt grundsätzlich bei den Eltern», sagt Aebi-Müller. Gebe es verschiedene Therapieoptionen, entschieden die Eltern, welche zum Zuge komme. Doch die Entscheidungshoheit habe Grenzen: Die Eltern müssten einerseits im besten Interesse des Kindes handeln, andererseits könnten sie nur Behandlungen für ihr Kind einfordern, die auch aus medizinischer Sicht sinnvoll seien.
«Wenn eine Behandlung aussichtslos ist, hat man kein Anrecht darauf.» Dies gelte grundsätzlich, nicht nur am Lebensende: Eine viral-erkältete Person könne auch kein Antibiotikum verlangen. Solche Behandlungen würden auch nicht von der Krankenkasse abgedeckt.
Die Schweiz hat die nötige Zeit und Ressourcen
Im Fall Archie kamen die Ärzt*innen zum Schluss, dass die Behandlungen aussichtslos seien – sie diagnostizierten den Hirntod. Doch die Eltern zweifeln daran, dass alle Untersuchungen gründlich genug durchgeführt wurden. Welche Optionen hätte man in diesem Fall in der Schweiz? Eltern könnten versuchen, eine superprovisorische Massnahme eines Gerichts zu erwirken, um mehr Zeit für weitere Untersuchungen zu gewinnen, sagt Aebi-Müller.
Hierzulande gebe es klare Richtlinien, wie ein Hirntod zu diagnostizieren sei. Würden die Ärzte die Diagnose nach diesen Kriterien feststellen, könnten sie aus juristischer Sicht sofort die lebenserhaltenden Massnahmen beenden – ohne Einwilligung der Eltern. In der Realität sei das jedoch kaum der Fall: «Das Entziehen der Geräte ist natürlich sehr emotional», erlauben es die Ressourcen und die Zeit, würden die Ärzte darum meist die Geräte noch laufen lassen, damit sich die Eltern gebührend verabschieden könnten.
In Grossbritannien jedoch fehlt meist genau das: Zeit und Ressourcen. Der britische Gesundheitsdienst steht finanziell stark unter Druck und neigt darum dazu, lebenserhaltende Massnahmen früher zu entziehen. Doch im Fall Archie sind sich die Gerichte einig: Die Ärzteschaft hat den richtigen Entscheid gefällt.