Experten-Interview «Chiesa als SVP-Präsident wäre kein Konkurrent für Martullo-Blocher»

Von Julia Käser

3.8.2020

Wird Marco Chiesa aus taktischen Gründen SVP-Präsident? 
Wird Marco Chiesa aus taktischen Gründen SVP-Präsident? 
Bild: Keystone

Sehr wahrscheinlich, dass Marco Chiesa der nächste SVP-Präsident wird. Ein Politologe spricht im Interview über die möglichen Gründe für die unerwartete Nominierung – und über den Einfluss der Blochers.

Herr Stojanović, Marco Chiesa wird auch als Sprachrohr von Herrliberg bezeichnet – wie schätzen Sie seine Beziehungen zu Christoph Blocher ein?

Darüber kann man nur spekulieren, aber mehrere Indizien deuten darauf hin, dass er im engen Kontakt mit Christoph Blocher steht – und vor allem darauf, dass er ihm gegenüber politisch loyal ist. Das wäre etwa bei Alfred Heer, der noch immer im Rennen ist, wohl nicht der Fall. 

Zur Person
Bild: Keystone

Nenad Stojanović ist Politologe und SNF-Professor an der Universität Genf. Er forscht unter anderem zu Nationalismus, direkter Demokratie und Multikulturalismus. Zwischen 2007 und 2013 sass er für die SP im Grossen Rat des Kantons Tessin.

Stimmen fordern, dass Magdalena Martullo-Blocher aus dem Parteivorstand der SVP zurücktreten muss, sollte Marco Chiesa der neue Präsident werden. Der Grund: Sie seien zu eng verbandelt. 

Ein Teil der SVP-Fraktion ist der Meinung, dass der Einfluss der Familie Blocher zu stark und für die parteiinterne Demokratie sogar sehr schädlich sei. Doch klar ist: Solange Christoph Blocher in der Partei das Sagen hat, wird seine Tochter eine wichtige Rolle spielen. Ihre Bundesratsambitionen sind ja kein Geheimnis, gerade für diesen Zweck ist ihre Einbindung in die Parteiführung wichtig.

Die SVP steht im Tessin gewissermassen im Schatten der Lega – ist einer ihrer Exponenten wirklich die richtige Wahl, um die Partei aus der vielbesagten Krise zu holen?

Ich gehe eigentlich nicht davon aus, dass er die erste Wahl der Findungskommission – beziehungsweise von Herrn Blocher – war. In den sozialen Medien etwa hat ein ehemaliger Tessiner SP-Parteipräsident gar darüber spekuliert, dass die Nominierung im Zusammenhang mit möglichen Bundesratsambitionen von Frau Martullo-Blocher eine wichtige Rolle spielt.

Können Sie diesen Zusammenhang genauer erklären?

Der Parteipräsident ist immer auch ein potenzieller Bundesratskandidat. Das war zum Beispiel bei Ueli Maurer der Fall. Wenn Maurer nun als Bundesrat zurücktritt, wäre ein Deutschschweizer Parteipräsident ein natürlicher Kandidat und damit ein Konkurrent für Martullo-Blocher. Mit einem Tessiner als Parteipräsidenten besteht diesbezüglich keine Konkurrenz, da ja ein Tessiner, namentlich Ignazio Cassis von der FDP, erst seit 2017 im Amt ist.

Laut der Findungskommission geht es auch darum, die SVP in der Romandie zu stärken. Ist Chiesa als Tessiner hierfür eine optimale Besetzung? 

Dieses Argument der Findungskommission soll wohl von den wirklichen Gründen ablenken. Chiesa spricht zwar relativ gut Französisch, aber das heisst noch lange nicht, dass er die richtige Person ist, um die SVP in der Westschweiz zu stärken. Übrigens wurde bereits die Wahl des Waadtländer Guy Parmelin in den Bundesrat mit diesem Argument begründet. Trotzdem hat die SVP in der Romandie die Wahlen danach verloren.

Beim Volk scheint Chiesa anzukommen, wie sich bei seiner Wahl in den Nationalrat 2015 sowie 2019 in den Ständeratswahlen zeigte. Was macht ihn so beliebt?

‹So› beliebt ist er nicht unbedingt. Im November vergangenen Jahres, beim zweiten Wahlgang der Tessiner Ständeratswahlen, wurde er von immerhin 60 Prozent der Stimmenden nicht gewählt. Ohne einen massiven und teuren Wahlkampf sowie eine strategische Allianz mit der Lega und – hinter den Kulissen – gar mit dem rechten Flügel der FDP hätte er wohl nicht gewinnen können.

Kommt er also gar nicht so gut an, wie seine Wahlresultate vermuten lassen?

Doch, es ist schon so, dass er in den öffentlichen Auftritten sympathisch wirkt. Das war im Tessin der Fall und wird wohl auch im Rest des Landes so sein. Gerade bei den Deutschschweizern haben die Tessiner oft einen Sympathiebonus.

Sie kennen Marco Chiesa auch von der Politik her. Was macht ihn als Politiker aus?

Er ist klug, hört zu und überlegt sich gut, bevor er etwas sagt oder tut. Politische Gegnerinnen und Gegner schätzen ihn als Gesprächspartner, weil man mit ihm gut sachorientiert diskutieren kann. 

Zum Schluss: Gehen Sie davon aus, dass Chiesa zum neuen Präsidenten gewählt wird, auch wenn es zu einer Kampfwahl kommt?

Ja. Obwohl es für die SVP – sowohl parteiintern als auch in der Öffentlichkeit – empfehlenswert wäre, einen offiziellen zweiten Kandidaten zu haben.

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