Verhandlungen, Mobilisierung, Eskalation Diese Strategien bleiben Putin nun noch 

Von Maximilian Haase

10.5.2022

Wie weiter für Wladimir Putin? Der Kreml-Machthaber scheint gezwungen, seine Kriegsstrategie in der Ukraine zu überdenken.
Wie weiter für Wladimir Putin? Der Kreml-Machthaber scheint gezwungen, seine Kriegsstrategie in der Ukraine zu überdenken.
Bild: Keystone/AP Pool Sputnik Kremlin/Mikhail Metzel

Kann Wladimir Putin im Krieg gegen die Ukraine weitermachen wie bisher – oder muss er seine Strategie ändern? Von Verhandlungen bis Eskalation: Diese Möglichkeiten hat der russische Machthaber noch.

Von Maximilian Haase

Am Ende geriet der «Tag des Sieges» in Russland unspektakulärer als von vielen erwartet. Wladimir Putins Rede zum 9. Mai dauerte kaum mehr als zehn Minuten; und auch die befürchtete Generalmobilmachung und offizielle Kriegserklärung an die Ukraine blieben aus.

Und doch könnte jener Montag einen Wendepunkt markieren, was Putins Kriegsstrategie angeht. Verhandlungen, Eskalation oder weiter wie bisher: Welche Optionen bleiben Putin nach Misserfolgen und Rückschlägen im Krieg gegen das Nachbarland nun noch? 

Neuinterpretation der Kriegsziele

Beobachter*innen galt die Rede Wladimir Putins im Vorfeld als Zäsur. Doch auch wenn es nicht zum befürchteten Paukenschlag kam, gehen Expert*innen davon aus, dass der russische Präsident mit seiner Wortwahl ein Ziel verfolgte. «Er ist auf dem Boden der Realität gelandet und ist mit militärischen Ankündigungen vorsichtig geworden», sagt Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, auf Anfrage von blue News. 

Auch Osteuropa-Experte Jörg Baberowski von der Berliner Humboldt-Universität betrachtet im Gespräch mit «rbb24» Putins Neuinterpretation des Krieges: «Er versucht jetzt, die Bevölkerung darauf einzustimmen, dass es sich um einen Krieg handelt – und zwar nicht um einen Krieg gegen die Ukraine, sondern um einen Krieg gegen die Nato und die USA.»

Dass jetzt von einem Verteidigungskrieg die Rede ist, interpretiert Baberowski als Verzweiflungstat Putins, der damit eingestehe, die Ukraine nicht besiegen zu können. Experte Schmid bestätigt diese Lesart: «Putin hat Russland in eine ausweglose Situation manövriert und sucht nun nach einer gesichtswahrenden Lösung.»

Dahinter verbergen sich nach Ansicht von Niklas Masuhr vom Center for Security Studies (CSS) an der ETH Zürich allerdings unveränderte Ansichten: «Politisch hat Russland immer noch die gleichen Ziele.» Die unmittelbaren militärischen Ziele habe man nur gesenkt, weil Putin die militärischen Realitäten anerkennen musste, so der Experte zu blue News. 

Konzentration auf den Osten der Ukraine

Ein militärisches «Weiter so» ist für Wladimir Putin durchaus denkbar: «Er wird sich auf die Eroberung der Gebiete Luhansk und Donezk konzentrieren und die ganze Ukraine weiter destabilisieren», so Experte Ulrich Schmid zu blue News. 

Ein Szenario, das auch Andreas Rüesch in einem Text in der «Neuen Zürcher Zeitung» für am wahrscheinlichsten hält: Wenn Putin schon keinen Sieg erringen könne, so habe er «zumindest ein starkes Interesse daran, eine Niederlage so lange wie möglich hinauszuzögern». Dies lege nahe, «den Kampf in begrenztem Rahmen weiterzuführen».

CSS-Experte Niklas Masuhr verweist auf die unveränderten politischen Ziele: Nur weil sich die militärischen Ziele nun auf den Donbas konzentrieren würden, heisse das nicht, dass die weiteren politischen Ambitionen vom Tisch wären: «Russland wird sich nicht mit dem Donbas zufriedengeben.» Ziel sei wahrscheinlich noch immer die «Zerschlagung der Ukraine».

 Verhandlungen und Waffenstillstand

Eine weitere Möglichkeit, die dem russischen Machthaber offensteht, sind Verhandlungen um einen Waffenstillstand und Ende des Krieges. Die meisten Expert*innen gehen jedoch davon aus, dass dies in absehbarer Zeit unrealistisch ist: Putin werde Verhandlungen erst dann anstreben, wenn die russische Armee wenigstens die Gebiete Luhansk und Donetsk militärisch gesichert habe, so die Einschätzung von Ulrich Schmid.

«Ab einem gewissen Punkt wird man verhandeln müssen», erklärt Niklas Masuhr auf Anfrage von blue News. Dabei komme es aber auf die Einschätzung der Gelegenheitsfenster an: «Wenn man in Moskau glaubt, man habe noch die Gelegenheit, militärische Erfolge zu erlangen, dann schätzt man den Wert von Verhandlungen anders ein.»

Verteidigungs- und Militärexpertin Claudia Major, Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, erblickt derweil keinen Willen Putins zu Verhandlungen über ein Kriegsende. «Ich sehe keine Bestrebungen für Verhandlungen oder eine Deeskalation, leider», so Major in der deutschen ARD-Talkshow «hart, aber fair». Er wolle weiterhin die Ukraine regieren.

«Ein Abkommen, das den Status quo zementiert, wäre ein Eingeständnis des Scheiterns», schreibt NZZ-Auslandsredaktor Andreas Rüesch. «Die Tatsache, dass Putin, gemessen an seinen Zielen, eine Niederlage erlitt», liesse sich im Fall von Waffenstillstandsabkommen «nur schwer vertuschen». Auch Rüesch hält dieses Szenario für unwahrscheinlich – selbst wenn ein solches Abkommen ein Mittel wäre, «um die westliche Öffentlichkeit zu spalten».

Mobilisierung und Ausweitung des Krieges

Auch wenn Putin in seiner Rede auf eine Generalmobilmachung verzichtete, ist diese «weiterhin möglich», sagt NZZ-Korrespondent Markus Ackeret im Interview mit SRF. Voraussetzung dafür wäre allerdings, «dass man die Kampfhandlungen offiziell zu einem Krieg erklären würde». Aufgrund der zu erwartenden Reaktionen in der Bevölkerung schrecke der Kreml davor «bis zu einem gewissen Grad zurück».

«Putin muss Rücksicht auf die öffentliche Meinung nehmen», bestätigt auch Ulrich Schmid auf Anfrage: «Ein totaler Krieg gegen die Ukraine würde in Russland von einer erdrückenden Mehrheit abgelehnt werden.» «Es wird weiterhin Nadelstiche mit Raketenangriffen auf die gesamte Ukraine geben, aber keinen vollen Angriff mehr», sagt der Experte zu blue News.

Auch Andreas Rüesch schreibt in seiner Einschätzung in der NZZ, dass Russland nicht über genügend gut ausgebildete und ausgerüstete Truppen verfüge, «um nochmals zur Eroberung eines Grossteils der Ukraine anzusetzen». Aber: Dass eine Konzentration auf den Donbass keineswegs bedeutet, dass andere Teile der Ukraine sicher sind, zeigten erst kürzlich wieder Raketenangriffe auf Odessa und Kiew.

Zugleich heisst das aber auch: Eine Mobilisierung könnte die einzige Option sein, die Putin nun hat. «Aktuell ist kaum vorstellbar, dass Moskau um eine gewisse Mobilisierung herumkommt», sagt Niklas Masuhr vom CSS. «Würde man beispielsweise die 160'000 im Herbst eingezogenen Soldaten nun in neues Personal für den Krieg konvertieren, wäre es vorstellbar, dass Russland Erfolge hat.» So könne es sein, dass Russland jetzt seine Position absichern wolle, um dann im Sommer eine grössere Offensive durchzuführen. Aber das müsse natürlich auch nicht klappen, so Masuhr.

Eine solche Mobilisierung könne man dem Experten zufolge jedenfalls «vermutlich besser unter dem Radar der eigenen Bevölkerung machen», so Masuhr, der hierin eine Erklärung für die vergleichsweise nüchterne Rede des Präsidenten sieht. Es gehe Putin «wohl auch eher darum, die Heimatfront noch ruhig zu halten». Grundsätzlich würde es aus Putins Perspektive «eine Mobilisierung brauchen, damit Russland militärische Ziele in der Ukraine erfüllt». Dies müsse aber nicht unbedingt die Generalmobilmachung sein. 

Eskalation gegenüber dem Westen

Blieben Optionen, die für alle Beteiligten wohl am gefährlichsten wären: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit gezielter Angriffe auf Nato-Stützpunkte in anderen osteuropäischen Ländern – und wie weit ist Putin bereit zu gehen, was die Drohung mit Atomraketen angeht? Muss man damit rechnen, dass der russische Präsident die Situation eskaliert?

«Das halte ich angesichts der aktuellen prekären Situation für unwahrscheinlich», sagt Ulrich Schmid: «Putin kann es sich nicht leisten, eine neue Front zu eröffnen.»

Eine mögliche atomare Eskalation hielte Andreas Rüesch in der NZZ für «eine Wahnsinnstat, da sich Russland damit international vollständig isolieren würde und der Westen endgültig geeint wäre im Bestreben, einen solchen Schurkenstaat wirtschaftlich in die Knie zu zwingen».

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