Dach der WeltEine «Befreiung», die bis heute zahllose Opfer fordert
tsha
24.10.2020
Am 24. Oktober 1950 verkündete China den Einmarsch in Tibet. Heute ist die Lage in der Region noch immer angespannt, sind Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung.
Von einem Zeichen «hoher Anerkennung» sprach Chinas Aussenamtssprecher Zhao Lijian, als sein Land vor wenigen Tagen erneut in den UNO-Menschenrechtsrat gewählt wurde. Anders sah das Pema Doma von der Gruppe «Studenten für ein freies Tibet». Nicht nur, weil China seiner Meinung nach völlig ungeeignet ist, über die Einhaltung der weltweiten Menschenrechte zu wachen. Auch erhielt das Land diesmal nur 139 Stimmen, vor vier Jahren waren es noch 180 gewesen. Das zeige, so Doma, «dass der brutale Angriff Chinas auf Menschenrechte nicht unangefochten bleiben kann und darf».
Die umstrittene Entscheidung der UNO-Mitgliedsstaaten kam nur wenige Tage vor einem Jahrestag, der bei den Tibetern traurige Erinnerungen wachruft: Am 24. Oktober 1950 hatte China verkündet, in Tibet einmarschieren zu wollen. Der seit Langem schwelende Konflikt zwischen beiden Ländern war schon einige Monate zuvor eskaliert. An jenem Dienstag vor 70 Jahren aber erhielt die chinesische Volksbefreiungsarmee (VBA) den Befehl, das Dach der Welt zu besetzen. Es war der Beginn einer Entwicklung, die bis heute anhält.
Die Besetzung bedeutete das Ende für das alte Tibet. Unter der chinesischen Herrschaft sind mehr als 1,2 Millionen Tibeter ums Leben gekommen, die einzigartige buddhistische Kultur des Landes steht kurz vor der Auslöschung. Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung, eine Besserung der Lage ist nicht zu erwarten.
Fragwürdige «Befreiung»
Der Anfang vom Ende Tibets kam mit der Ausrufung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949. Wenig später verkündete Radio Peking: «Die Volksbefreiungsarmee muss alle chinesischen Gebiete befreien, inklusive Tibet.» Den Worten folgten bald Taten, und Zehntausende chinesische Soldaten marschierten im Oktober des Folgejahres in Tibet ein.
Im April 1951 wurde eine Delegation des Dalai-Lama nach Peking geladen, um unter Führung eines tibetischen Ministers über die Zukunft Tibets zu verhandeln. Dort wurde sie am 23. Mai zur Unterzeichnung eines Abkommens gezwungen, das Tibet endgültig an China band. Der Dalai-Lama, der die Delegation zu diesem Schritt nicht befugt hatte, lehnt das Abkommen bis heute ab. Vier Monate später, am 9. September 1951, erreichte die Volksbefreiungsarmee die tibetische Hauptstadt Lhasa.
Während China in den Folgejahren die Kontrolle über Tibet immer mehr an sich riss, kam es in dem Land zu Aufständen. Ihren Höhepunkt fanden sie im März 1959, als das Volk befürchtete, China wolle den Dalai-Lama entführen. In Lhasa kam es zu Strassenschlachten, bei denen mindestens 1'500 Tibeter starben. Unmittelbar danach verliess der Dalai-Lama das Land, um ins indische Exil zu gehen, wo er bis heute lebt. Was folgte, war ein Völkermord und der systematische Versuch, die tibetische Kultur auszulöschen. Vor allem während der Kulturrevolution ab Mitte der 60er-Jahre wurden unzählige Menschen ermordet, in Arbeitslager gesteckt und Hunderte Klöster zerstört.
Subtile Unterdrückung
Heute geht die chinesische Regierung kaum mehr mit offener Gewalt gegen die tibetische Bevölkerung vor – die Mittel sind subtiler geworden. So schafft Peking Anreize, damit sich mehr Chinesen in Tibet niederlassen. In vielen Regionen des Landes sind die Tibeter so zur Minderheit im eigenen Land geworden. Auch die tibetische Sprache wird systematisch unterdrückt, das Chinesische hingegen gefördert.
Der Sozialwissenschaftler Adrian Zenz, der mithalf, das System der Masseninhaftierungslager in der chinesischen Provinz Xinjiang aufzudecken, sieht Hinweise darauf, dass es ähnliche Lager auch in Tibet gibt. «Die Regierung führt Listen über alle Menschen in der Region, ihren Armutsstand und mögliche Gegenmassnahmen wie ein Arbeitstraining und den anschliessenden Transfer», sagte Zenz kürzlich der «Süddeutschen Zeitung».
«Die Menschen werden zentralisiert ausgebildet. Wir wissen grob, dass das Training einen militärischen Drill vorschreibt, die Tibeter sollen zudem Arbeitsdisziplin und Chinesisch erlernen. Dazu kommen politische Inhalte, in denen den Menschen die Dankbarkeit gegenüber der chinesischen Regierung eingetrichtert wird. Auch soll der Einfluss der Religion zurückgedrängt werden.» Die chinesische Regierung begründe die Massnahmen mit der Bekämpfung der Armut in Tibet. Tatsächlich gehe es Peking aber «um das Ende traditioneller Lebensformen», so Zenz. Betroffen seien eine halbe Million Menschen.
Eine fatale Hochzeit
Die Ursachen für den Konflikt zwischen China und Tibet reichen bis ins siebte Jahrhundert zurück, als eine chinesische Prinzessin in Lhasa mit einem tibetischen König verheiratet wurde. Schon damals, so viele chinesische Historiker, sei Tibet von China politisch abhängig gewesen. Nach einem fast 200 Jahre andauernden Krieg zwischen China und Tibet legte im Jahr 821 n. Chr. allerdings ein Vertag zwischen beiden Ländern fest, dass sowohl Tibet als auch China ihre Grenzen beibehalten sollten.
In den folgenden Jahrhunderten war das Verhältnis der beiden Nachbarn ambivalent. Mal waren Tibet und China Teil des Mongolenreichs, mal waren die beiden Länder in einer Art spirituellen Beziehung miteinander verbunden: Während China für die Sicherheit Tibets garantierte, war Tibet so etwas wie der spirituelle Leitstern Chinas.
Anfang 1912 jedenfalls erklärte der 13. Dalai-Lama die Unabhängigkeit Tibets. Kurz zuvor war mit der Qing-Dynastie das chinesische Kaiserreich zu Ende gegangen. Obwohl eine formelle Anerkennung dieser Unabhängigkeit nicht erfolgte, wurde Tibet faktisch als unabhängiger Staat behandelt, so wurden beispielsweise tibetische Pässe als Reisedokumente anerkannt.
Heute freilich sind all diese historischen Hintergründe nicht mehr als ein verstaubtes Stück Geschichte. Nicht erst seit die Corona-Krise die Schlagzeilen bestimmt, sind Meldungen aus Tibet kaum mehr als eine Randnotiz im täglichen Nachrichtenstrom. Während der Dalai-Lama aus seinem nordindischen Exil weiter friedlich dafür kämpft, dass sein Land wenn schon nicht unabhängig, so doch immerhin autonom von China wird, hat sich die Weltgemeinschaft mit dem Status quo abgefunden: 70 Jahre nach dem chinesischen Einmarsch zweifelt heute kaum jemand mehr öffentlich an, dass Tibet ein Teil von China ist.