Steigende Corona-Zahlen Russland kämpft gegen die Impfskepsis

AP/toko

27.6.2021 - 12:42

In Russland spitzt sich die Corona-Lage weiter zu.
In Russland spitzt sich die Corona-Lage weiter zu.
AP Photo/Alexander Zemlianichenko

Nach frühen Erfolgen im Kampf gegen Covid-19 fällt Russland jetzt bei den Impfungen zurück. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung will sich nicht immunisieren lassen. Die Behörden greifen jetzt zu härteren Massnahmen, um die Menschen in die Impfzentren zu bewegen.

Die Behörden haben es mit Lebensmittel-Prämien und Lotterien für Neuwagen oder Wohnungen als Anreiz versucht. Aber dennoch blieb ein ehrgeiziger Plan, bis Mitte Juni 30 Millionen Russen gegen das Coronavirus zu impfen, um ein Drittel hinter dem Soll zurück. Deshalb verpflichten jetzt viele Regionalregierungen im ganzen Land Beschäftigte bestimmter Branchen zur Impfung. Auch für den Besuch von Geschäften und Restaurants gelten strengere Auflagen.

Während viele westliche Länder nach massenhaften Impfungen gerade Corona-Beschränkungen aufheben und eine Rückkehr zur Normalität planen, kämpft Russland gegen steigende Infektionszahlen. Und das obwohl es als erstes Land weltweit einen Impfstoff zugelassen und als eines der ersten im Dezember mit der Verabreichung begonnen hat.

Bürger*innen warten auf eine Impfung mit dem russischen Impfstoff Sputnik V. 
Bürger*innen warten auf eine Impfung mit dem russischen Impfstoff Sputnik V. 
EPA/YURI KOCHETKOV/Keystone

Die Zahl neuer Fälle pro Tag stieg von etwa 9000 Anfang Juni auf etwa 17'000 am 18. Juni und über 20'000 am Donnerstag und Freitag. Die Behörden führen dies auf einen laxen Umgang vieler Russen mit den Schutzmassnahmen zurück sowie auf die zunehmende Ausbreitung gefährlicherer Virusvarianten. Doch der wichtigste Faktor ist vermutlich der Mangel an Impfungen. Bis Freitag wurden mehr als 21 Millionen Menschen oder etwa 14 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal geimpft. Den vollen Impfschutz hatten Anfang der Woche lediglich 16,7 Millionen Menschen oder rund elf Prozent.

Experten machen für die niedrigen Zahlen mehrere Faktoren verantwortlich, darunter ein Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der raschen Zulassung und Verteilung des Vakzins Sputnik V sowie das offizielle Narrativ, dass Russland den Corona-Ausbruch in den Griff bekommen habe. Weitere Punkte sind Warnungen im Staatsfernsehen, dass andere Impfstoffe gefährlich seien, und eine schwache Promokampagne mit Werbegeschenken als Anreizen. Nach Angaben des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada wollen sich etwa 60 Prozent der Russinnen und Russen nicht impfen lassen.



Angesichts des Anstiegs an Infektionen führten 18 russische Regionen – von Moskau und St. Petersburg bis nach Sachalin im Fernen Osten – in diesem Monat eine Impfpflicht unter anderem für Regierungsbeamte und Beschäftigte in Einzelhandel, Gesundheitswesen, Bildung, Restaurants und anderen Dienstleistungsbranchen ein. Die Behörden in Moskau erklärten, Unternehmen sollten Mitarbeitern, die sich nicht impfen lassen wollen, den Lohn vorenthalten. Sie drohten damit, vorübergehend den Betrieb von Unternehmen einzustellen, die das Ziel nicht erreichen, bis zum 15. Juli 60 Prozent der Belegschaft mindestens einmal und bis zum 15. August zweimal zu impfen.

«Jetzt haben sie keine andere Wahl mehr»

Seit Montag sind alle Restaurants, Cafés und Bars in der Hauptstadt nur noch geöffnet für Geimpfte, in den vergangenen sechs Monaten Genesene und für Gäste, die einen höchstens 72 Stunden alten negativen Corona-Test vorweisen können. Im Seebad Sotschi am Schwarzen Meer wollen die Hotels vom 1. Juli an nur noch Gäste mit negativen Corona-Test oder Impfnachweis aufnehmen. Ab dem 1. August werden nur noch Geimpfte beherbergt.

Die behördlichen Massnahmen wirken wie ein Akt der Verzweiflung. «Sie haben sich selbst in die Enge manövriert, jetzt haben sie keine andere Wahl mehr», sagt die Politikwissenschaftlerin Judy Twigg von der Virgina Commonwealth University. «Sie haben diesen Impfstoff so übermässig gehypt, dass die Menschen ihm nicht getraut haben. Dann haben sie eine Reihe von Massnahmen ergriffen, die offensichtlich den Eindruck erwecken sollten, dass die Regierung alles unter Kontrolle hat, dass die Pandemie keine grosse Sache ist. Und jetzt sind sie nicht überraschend in dieser Situation, in der niedrige Impfraten ein Eintrittstor für die Delta-Variante geboten haben.»

Kremlsprecher Dmitri Peskow pochte am Freitag darauf, dass es keine verpflichtenden Impfungen gebe. Anfang der Woche hatte er noch erklärt, dass Beschäftigte mit Impfpflicht die Immunisierung ablehnen und sich eine andere Arbeit suchen könnten.

Die Auflagen stiessen auf gemischte Reaktionen. Einige Unternehmer begrüssten sie, sofern sie die Schliessung von Betrieben verhindern. Andere hingegen zeigten sich verunsichert, wie sie skeptische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von der Impfung überzeugen sollen. «Die meisten Gastronomen halten die Impfung für notwendig», betont Sergei Mironow, Gründer einer Restaurantkette und Vizepräsident des russischen Hotel- und Gaststättenverbandes. Für die Impfkampagne müssten aber die richtigen Voraussetzungen geschaffen werden: «Es gibt zu viele Gerüchte, und selbst Ärzte treffen unterschiedliche Aussagen.»

Kündigungsdrohungen für Ungeimpfte

Die Menschenrechtsbeauftragte der russischen Regierung, Tatjana Moskalkowa, berichtete, dass Ungeimpfte Diskriminierungen durch ihre Arbeitgeber gemeldet hätten, darunter Kündigungsdrohungen oder die Verweigerung von Boni.

Der beliebte Schauspieler Jegor Berojew trug am Dienstag bei einer Fernsehpreis-Verleihung einen gelben Stern und sprach davon, «in einer Welt aufzuwachen, in der eine Covid-19-Impfung zum Erkennungszeichen dafür wird, ob man ein Staatsbürger ist, ob man Einrichtungen und Veranstaltungen besuchen darf, ob man alle Vorteile und Rechte geniesst».

Möglicherweise trägt die neue Impfpflicht nun dazu bei, dass sich Einstellungen ändern. Nach Angaben der stellvertretenden Ministerpräsidentin Tatjana Golikowa hat sich die durchschnittliche Impfrate im Land in der vergangenen Woche fast verdoppelt. Vor Impfstellen in Moskauer Einkaufszentren bildeten sich lange Warteschlangen.

AP/toko