Denkbares SzenarioSo könnte Putins Invasion der Ukraine aussehen
Von Philipp Dahm
31.1.2022
Erst ist der Süden der Ukraine dran – und wenn der russische Korridor steht, wird östlich des Dnepr angegriffen: Falls sich Wladimir Putin für den Einmarsch entscheidet, wäre das wohl die Marschrichtung.
Von Philipp Dahm
31.01.2022, 13:19
Philipp Dahm
Wird es in der Ukraine einen offenen Krieg geben? Wenn sich der russische Präsident Wladimir Putin wirklich für einen Angriff entscheiden sollte, würde er es bald tun. Die Krise hat die Öl- und Gaspreise in die Höhe schiessen und Russland ein ordentliches Sümmchen einstreichen lassen. Nicht zuletzt ist der Gashahn ein Druckmittel, um den Europäern im Streitfall einzuheizen.
Das ist mit Grund dafür, dass westliche Geheimdienste stets vor einer Invasion Ende Januar oder Februar gewarnt haben. Aktuell gibt es noch keine Anzeichen dafür: Erst wenn im grossen Stil Verpflegung, medizinische Güter und Treibstoff an der Grenze deponiert werden, würde auch die Ukraine nervös werden.
Tatsächlich hat Wolodymyr Selenskyj den Westen gebeten, sich im Ton zu mässigen – auch wenn die Bedrohung durch Russland «unmittelbar und konstant» sei. Dennoch nervt sich der ukrainische Präsident Ende der letzten Woche ob Emmauel Macron und Joe Biden: «Sie sagen, morgen gibt es Krieg. Das bedeutet Panik.»
Wie der Angriff ablaufen würde? Darüber lässt sich gut spekulieren: Ein entscheidender Faktor ist Zeit. Je schneller die Kampagne vorüberginge, desto weniger Protest kann die internationale Gemeinschaft diplomatisch organisieren. Nicht zuletzt würde ein längerer Feldzug auch mehr Tote auf russischer Seite bedeuten.
Angesichts stetig sinkender Umfragewerte und ständig steigendem Waffen-Nachschub für die Ukraine aus dem Westen könnte sich Putin sowas nicht erlauben. Den Auftakt im Kriegsfall besorgen Flugzeuge und Raketen. Die ukrainische Luftwaffe ist der russischen hoffnungslos unterlegen. Kiew verfügt nur über rund 125 Jets aus sowjetischer Produktion, die nach dem Ausbruch von Feindlichkeiten wohl bereits am Boden zerstört würden.
Phase eins: Korridor im Süden errichten
Neben Flugplätzen und Kommunikationszentren sind Flugabwehr-Stellungen bevorzugte Ziele der ersten Welle, die aus Kampfflugzeugen und Marschflugkörpern vom Typ Iskander bestehen würde. Die Ukraine hat verschiedene Boden-Luft-Raketen der Typen S-300, Buk-M1, SA-15, SA-6 und SA-3, die der absoluten Dominanz Russlands in der Luft im Wege stehen.
Der Beginn des Bodenkrieges dürfte sich vor allem auf die Südukraine konzentrieren. Ein wichtiges Ziel ist hier die Stadt Odessa, das von zwei Seiten attackiert werden könnte: Durch Panzerverbände im Osten, die von der Krim kommen und durch eine amphibische Landung im Westen, für die die entsprechende Schiffe gerade das Schwarze Meer erreicht haben.
Wenn die Einnahme Odessas schnell gelänge, wäre schon viel gewonnen. Russland könnte die Lücke zu Transnistrien schliessen. Das ist der östliche Teil der Republik Moldau: Die Hauptstadt dieses de facto unabhängigen Gebildes, dessen rund 500'000 Einwohner sich an Russland orientieren, ist Tirapol.
Phase zwei und drei: Druck erhöhen, bis Kiew einlenkt
Komplettiert würde der Angriff im Süden von einer Zangenbewegung, in der Truppen von der Krim und vom Donbas-Gebiet kommend einen russischen Korridor südlich des Dnepr etablieren würden. Moskau würde damit auch den Fluss als Nachschub-Quelle für Kiew ausschalten.
Sollte die ukrainische Regierung russischen Forderungen nicht entgegenkommen, könnten mechanisierte russische Einheiten in einer zweiten Phase Gebiete östlich des Dnepr besetzen. Hier wartet die zweitgrösste Stadt der Ukraine auf eine Belagerung: Charkiw hat 1,5 Millionen Einwohner. In der Verlängerung liegt der Verkehrsknotenpunkt Poltawa: In dem Maschinenbau-Zentrum leben etwa 300'000 Menschen.
Sollte auch dieser Schritt zu keinem russischen Erfolg führen, würde Moskau wohl auf Kiew losgehen. Dieser Angriff würde wahrscheinlich von Belarus aus gestartet werden – so ersparen sich russische Truppen die Überquerung des Dnepr und könnten nach Umgehung des Tschernobyl-Gebietes auf die Hauptstadt vorrücken, um sie zu belagern.
Russlands Kriegsziele
Was wäre bei diesem Konflikt das Kriegsziel des Kreml? Die Loslösung des Donbas-Gebietes oder zumindest eine weitreichende Autonomie sind das eine. Praktischer wäre es jedoch ohnehin, Kiew die Zentralgewalt zu nehmen und aus der Ukraine eine Föderation autonomer Staaten zu machen, die dann so aussehen würde:
In diesem Konstrukt hätte Moskau die Möglichkeiten, sich nach und nach Puzzleteile herausbrechen zu können, weil die autonomen Saaten ihre Aussenpolitik selbst bestimmen könnten. De facto würde es das Ende der Ukraine bedeuten, wie wir sie kennen.
Russland könnte sich Zeit lassen, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen und müsste auch keine internationalen Sanktionen befürchten, sollten sich ukrainische Staaten anschliessen wollen.
Zu wenig Soldaten für zu viel Krieg
Wenn Putin angreifen sollte, wird er auf eine schnelle Kampagne setzen, denn 120'000 Soldaten reichen bei Weitem nicht aus, um das Land längerfristig zu kontrollieren. Im Westen der Ukraine müssten die Besatzer mit deutlich mehr Widerstand rechnen. Insgesamt hat landesweit rund ein Drittel der Ukrainer bekundet, im Eroberungsfall gegen Russen kämpfen zu wollen.
Mit ihrer massivem Artillerie- und Panzer-Verbänden hat die russische Armee zwar zwei Trümpfe in der Hand, doch je mehr Zeit vergeht, desto besser wird der Westen den Gegner ausrüsten, um diese Gefahr zu kontern. Was im Kriegsfall anders wäre als 2014 wäre ausserdem die Versorgung der Ukraine mit militärischen Informationen aus dem Westen.
Nimmt Wladimir Putin – wie schon vor sieben Jahren – den Groll der USA und Europas in Kauf und überfällt das Nachbarland trotz der Drohungen des Westens? Gewiss ist am Ende bloss eins: Sollte es wirklich zum bewaffneten Konflikt kommen, wird er viele, viele Menschen das Leben kosten.