Interview «Der Angriff auf Nawalny hat das Fass zum Überlaufen gebracht»

Von Gil Bieler

26.1.2021

Vergiftet, dann verhaftet: Das Schicksal von Alexej Nawalny bewegt über Russland hinaus. Was droht dem Kremlkritiker, und was plant Putin? Professor Ulrich Schmid von der Uni St. Gallen hat Antworten.

Herr Schmid, die russischen Sicherheitskräfte gingen am Wochenende rigoros gegen die Demonstrationen von Nawalny-Anhängern vor – ein Zeichen dafür, dass der Kreml nervös ist?

Das ist sicher so zu deuten, ja. Der erste Schachzug des Kreml ging ja nicht auf: Man hatte prominent angekündigt, dass Alexej Nawalny bei einer Rückkehr nach Russland verhaftet werde. Doch statt sich einschüchtern zu lassen, hat Nawalny diese Drohung sehenden Auges ignoriert. Er hat die Herausforderung durch den Kreml mit einem noch stärkeren Angriff gekontert – eine zahnlose Existenz als Politemigrant in Deutschland hat er abgelehnt und sich in die Höhle des Löwen begeben.

Unmittelbar nach seiner Rückkehr wurde er zu 30 Tagen Haft verurteilt. Er bezahlt also einen hohen Preis.

Zumindest in der westlichen Öffentlichkeit ging sein Kalkül auf: Als Opfer eines staatlich organisierten Giftanschlags kämpft er umso energischer gegen den russischen Unrechtsstaat. Die Beweislage, dass die Geheimdienste hinter dem Mordversuch stehen, ist ja erdrückend.

Wie sieht es in Russland selber aus: Schwingt er sich dort zum Volkshelden auf?

In der russischen Öffentlichkeit hat Nawalny zwar Anhänger, aber vor allem in der Altersgruppe der unter 35-Jährigen, die sich im Internet bewegt. In älteren und ländlichen Kreisen, die sich über das staatliche Fernsehen informieren, gilt er dagegen als Krimineller, als Unruhestifter. Die Staatsmedien verpassen es nie, darauf hinzuweisen, dass Nawalny bereits zweimal in angeblichen Betrugsfällen verurteilt wurde. Dabei bleibt unerwähnt, dass er sich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gewehrt und Recht erhalten hat.

Zur Person
zVg

Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen.

Die Vergiftung wird vermutlich auch nicht erwähnt, oder?

Genau. Nach russischer Lesart, die auch von Putin persönlich verbreitet wird, handelt es sich um eine Inszenierung westlicher Geheimdienste, die damit Russland schaden wollen.

Die Proteste waren die grössten seit Jahren. Wieso reicht es genau jetzt so vielen Menschen?

Der Angriff auf Nawalny hat im protestbereiten Teil der Bevölkerung Empörung ausgelöst. Schon länger sind diese Leute nicht zufrieden mit dem Status quo, etwa den fehlenden Möglichkeiten der politischen Teilnahme. Das war nun der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

Und wie viel trug Nawalnys Film über Putins protzigen Palast dazu bei?

Die Bedeutung dieses Films würde ich nicht überbewerten. In der russischen Öffentlichkeit kursieren schon seit mehreren Jahren Gerüchte über diesen Palast. Es ist also nicht eine grosse Überraschung, sondern eher eine Bestätigung für das, was man bereits länger vermutet hat: dass die Korruption bis zu Putin hinaufreicht.



Wo kann man Nawalny politisch überhaupt einordnen?

Er hatte einen nationalistischen Hintergrund, versuchte aber später, sich davon zu lösen. Berühmt wurde er dann mit einem eher unpolitischen Thema, nämlich der Korruptionsbekämpfung. Zunächst hat er auf einer Website die staatliche Vergabepraxis aufgedeckt und kritisiert, heute betreibt er einen Fonds zur Bekämpfung der Korruption. Vor dem Video über Putins Palast publizierte er auch schon Filme über Putins loyalen Mitstreiter Dmitri Medwedew und den ehemaligen Generalstaatsanwalt Juri Tschaika. Nawalny weiss, dass er mit dem Thema Korruption besonders viele Leute um sich scharen kann, und möchte so ein möglichst breites politisches Spektrum abdecken. Es gelingt ihm allerdings nicht so richtig, die Leute politisch für sich zu begeistern.

Aber er gilt doch als der einflussreichste Oppositionelle.

Es gibt eine Umfrage des privaten, unabhängigen Lewada-Meinungsforschungsinstituts vom August 2020. Damals wurden die Leute gefragt, ob sie Nawalny zum Präsidenten wählen würden. Nur gerade zwei Prozent der Befragten sagten Ja.

Wie glaubhaft konnte sich Nawalny von seiner einst nationalistischen Haltung distanzieren?

Nawalny betrachtet sich nach wie vor als russischen Patrioten. Seine Anhänger führen oft die russische Nationalflagge mit sich, um zu zeigen, dass sie das ‹wahre› Russland repräsentieren. Nawalny hat auch in der Krim-Frage klar Stellung bezogen: Er will die Halbinsel nicht an die Ukraine zurückgeben.

Sie haben es gesagt, Nawalny erreicht vor allem die Jüngeren: Sind diese besonders kritisch gegenüber der Regierung?

Jüngere sind einfach mobiler, ob privat oder beruflich. Die Regierung hat den Anspruch, dass Russland eine moderne Gesellschaft sei – allerdings auf der Grundlage anderer Werte als im Westen. Statt individueller Freiheit und Liberalismus werden konservative Werte hochgehalten. In der älteren Generation verfängt das gut, doch jüngere Russinnen und Russen sehen durchaus, wie westliche Gesellschaften funktionieren, und dass ihre Heimat politisch hinterherhinkt.

«Die Jungen sehen, dass Russland politisch hinterherhinkt.»

Wie gross ist jetzt die Chance auf einen Wandel in Russland?

Das hängt davon ab, wie nachhaltig die Mobilisierung ist, die Nawalny auslösen kann. Für den kommenden Samstag sind erneut Proteste angekündigt – wobei man natürlich sehen muss, dass es enorm viel Mut braucht, heute in Russland auf die Strasse zu gehen.

Wie geht es jetzt mit Nawalny weiter?

Im Raum steht bereits eine neue Anklage wegen des Aufrufs zu unbewilligten Protesten. Das wird in Russland mit drakonischen Strafen geahndet. Es ist gut denkbar, dass man nun nicht nur Nawalnys dreieinhalbjährige Bewährung in eine Haftstrafe umwandelt, sondern ihn zusätzlich wegen Anstiftung von Massenunruhen zu einer mehrjährigen Strafe verurteilt. Das wäre dann ein nachträgliches Chodorkowski-Szenario: Der Oppositionelle Michail Chodorkowski musste ja zehn Jahre absitzen, bevor er freigelassen wurde und sich in den Westen absetzte.

Worauf zielt Nawalny überhaupt ab?

Ich kann mir vorstellen, dass alles, was er jetzt gemacht hat, im Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 2024 geschieht. Dass er mit seinen spektakulären und gewagten Aktionen diese Wahl beeinflussen möchte.

Bern zeigt sich besorgt

Das Schweizer Aussendepartement EDA äusserte sich besorgt über die Verhaftung von Alexej Nawalny bei seiner Rückkehr nach Moskau und seiner Verurteilung. «Die Justiz muss unabhängig von der Politik agieren und die Menschenrechte respektieren», erklärte das EDA der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Rechtliche Verfahren dürften nicht als Mittel zur Verfolgung aus politischen Gründen dienen. Die Schweiz fordert Russland zudem dazu auf, eine unabhängige Untersuchung zur Vergiftung von Alexej Nawalny einzuleiten.

Weiss man denn, was Putin für die Zukunft plant? Immerhin ist er schon 68 Jahre alt.

Es gab im letzten Jahr Anzeichen, dass sich Putin für 2024 alle Optionen offen halten will. Die vom Volk angenommene Verfassungsreform gibt ihm zwar die Möglichkeit für zwei weitere sechsjährige Amtszeiten. Putin könnte aber auch einen schwachen, loyalen Präsidenten installieren – wie Medwedew zwischen 2008 und 2012 – und aus dem Hintergrund die Fäden ziehen. Oder er könnte Präsident des Staatsrats werden, der im letzten Jahr Verfassungsrang erhielt. Schliesslich könnte er sich zum Senator auf Lebenszeit ernennen lassen. Sollte er sich zurückziehen, garantiert ihm die Verfassungsrevision in jedem Fall Immunität. Es ist also vieles möglich.

Hat Putin das Problem, dass er schlicht unersetzbar ist?

Putin ist seit 20 Jahren an der Macht, wenn man seine Zeit als Premierminister 2008 bis 2012 mitzählt, in der er aus der zweiten Reihe regiert hat. Er hatte also mehr als genug Zeit, alle wichtigen Schlüsselpositionen mit seinen Vertrauten zu besetzen. Putin ist kein Alleinherrscher: Sollte er einmal ausfallen oder sich auf eine andere Position zurückziehen, hätte das von ihm errichtete System durchaus Bestand.

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