Weiterer Kriegsverlauf Lenkt Putin ein – oder lässt er die Gewalt erst recht eskalieren?

AP/gbi

27.3.2022 - 11:42

Er hat den weiteren Kriegsverlauf in der Hand: Wladimir Putin, Präsident von Russland.
Er hat den weiteren Kriegsverlauf in der Hand: Wladimir Putin, Präsident von Russland.
Mikhail Klimentyev/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa

Die russischen Truppen kommen nicht so schnell voran wie erwartet. Dass Kreml-Chef Wladimir Putin seine Ziele aufgibt, gilt vielen trotzdem als unwahrscheinlich. Einiges spricht sogar für eine Zunahme der Gewalt.

Rund einen Monat nach Beginn der Gefechte stockt der russische Einmarsch in der Ukraine unübersehbar. Der russische Präsident Wladimir Putin steht damit vor folgenschweren Entscheidungen: wie und wo er die teils stark dezimierten Truppen wieder aufstockt, ob er westliche Waffenlieferungen an die Ukraine direkt angreifen will – und vor allem, zu welchem Preis er bereit wäre, seinen Krieg noch weiter auszudehnen oder einzustellen.

Zwar kündigte Vize-Generalstabschef Sergej Rudskoj diese Woche an, die erste Phase der Offensive sei abgeschlossen, in einer zweiten Phase gelte das Hauptaugenmerk nun der «Befreiung des Donbass». Doch von Putin selbst gab es bisher keinerlei Anzeichen, dass er einlenken könnte – trotz zunehmender internationaler Isolation und folgenschwerer Sanktionen. 

«Putin ist niemand, der zurückweicht. Und wenn doch, ist das immer nur eine Pause. Wir können also mit grosser Sicherheit sagen, dass ein Waffenstillstand nur vorübergehend wäre», sagt denn auch die Schriftstellerin und Journalistin Masha Gessen, die eine Biografie über den Kreml-Chef verfasst hat, dem Magazin «Der Spiegel». 

Ukraine spielt ihre Karten gut aus

Der Westen ist angesichts der russischen Aggression so geeint wie schon lange nicht mehr. Doch auch in Russland scheint die Bevölkerung, die sich fast nur noch über die vom Kreml kontrollierten Medien informieren kann, weiterhin mehrheitlich hinter der Landesführung zu stehen.

Die ukrainischen Streitkräfte sind den Angreifern zwar waffentechnisch unterlegen. Sie profitieren aber von jahrelangem Training durch Nato-Staaten sowie von Waffenlieferungen und nicht zuletzt von moralischer Unterstützung aus aller Welt. Nun, da sich die Invasoren laut Berichten an einigen Fronten neu formieren müssen, geben sie sich besonders selbstbewusst.

Die russischen Defizite sind für viele Beobachter*innen eine grosse Überraschung. Nach zwei Jahrzehnten der Modernisierung und Professionalisierung erweisen sich Putins Truppen als schlecht vorbereitet und schlecht koordiniert. Die genaue Zahl der Verluste ist zwar nicht bekannt. Nach Schätzung der Nato dürften aber in nur vier Wochen zwischen 7000 und 15'000 russische Soldaten getötet worden sein – das wären etwa so viele wie einst in zehn Jahren Krieg in Afghanistan.

Robert Gates, ehemaliger US-Verteidigungsminister und Direktor des Geheimdienstes CIA, sagte kürzlich, Putin müsse «spektakulär enttäuscht» sein. In der Ukraine «sehen wir Wehrpflichtige, die gar nicht wissen, warum sie dort sind, die nicht sehr gut ausgebildet sind sowie enorme Probleme mit Führung und Kontrolle und unglaublich schlechte Taktiken», sagte Gates kürzlich auf einer Veranstaltung.

Entwicklungen auf dem Schlachtfeld sind aus der Ferne nur schwer zu beurteilen. Aber einige westliche Expert*innen sehen Zeichen für potenziell bedeutsame Verschiebungen. Mick Smeath, britischer Militärattaché in Washington, sagte am Mittwoch, ukrainische Truppen hätten laut Informationen der Geheimdienste seines Landes vermutlich zwei Städte westlich von Kiew zurückerobert.

Mit solchen erfolgreichen Gegenangriffen werde die Ukraine die Russen daran hindern, «sich neu zu organisieren und die eigene Offensive gegen Kiew fortzusetzen», so Smeath. In der Hafenstadt Berdjansk sollen inzwischen auch Schiffe der russischen Marine zerstört worden sein.

Belagern und bombardieren

Wegen des heftigen Widerstands der Ukraine sind die russischen Truppen an vielen Orten dazu übergangen, Städte zu bombardieren. Bei der strategisch wichtigsten Operation, der Einnahme von Kiew, machen sie aber kaum Fortschritte. Nach Angaben der USA sind einige russische Einheiten dazu übergegangen, sich ausserhalb der Stadt in Verteidigungsstellungen zu verschanzen, anstatt selbst weiter anzugreifen. Teilweise sollen sie zuletzt sogar zurückgedrängt worden sein.

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Kurz vor Beginn des Kriegs am 24. Februar waren einige US-Experten davon ausgegangen, dass Russland Kiew sehr schnell – womöglich innerhalb von wenigen Tagen – einnehmen könnte und die ukrainischen Streitkräfte sich nach einigen Wochen geschlagen geben müssten. Dass zunächst nur ein kleiner Teil der geschätzt mehr als 150'000 russischen Soldaten, die an der Grenze stationiert worden waren, losgeschickt wurde, spricht dafür, dass auch Putin mit einem schnellen Sieg gerechnet hatte.

Der Wechsel zu einer Belagerungstaktik mit Luftangriffen aus der Ferne gründet nach Einschätzung von Stephen Biddle, Professor für internationale Beziehungen an der Columbia University, auf der Hoffnung Putins, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj irgendwann aufgeben werde, um das Sterben und die Zerstörung zu beenden.

«Es ist sehr unwahrscheinlich, dass dieser Plan aufgeht», schreibt Biddle der Nachrichtenagentur AP. Durch das «Abschlachten von unschuldigen Zivilpersonen und die Zerstörung ihrer Häuser und Wohnviertel» werde der Widerstand und die Entschlossenheit der Ukrainer sogar eher gestärkt.

«Ich habe über beide Kriege in Tschetschenien berichtet, und der Modus Operandi war stets derselbe. Es ging darum, Zivilisten zu terrorisieren und Städte in Schutt und Asche zu bomben», bestätigt die Journalistin Masha Gessen im «Spiegel». 

Zweifel an militärischen Erfolgen für die Ukraine

Nach Angaben des Pentagon-Sprechers John Kirby sind ukrainische Einheiten in einigen Gebieten bereits zu Gegenangriffen übergegangen. An der grundsätzlichen Überlegenheit Russlands ändert dies allerdings nichts.

Laut Philip Breedlove, einem früheren General der US-Luftwaffe, der heute für das Middle East Institute in Washington arbeitet, wird die Ukraine deswegen wohl keinen echten militärischen Sieg erreichen können. Der Ausgang des Krieges werde eher davon abhängen, welche Zugeständnisse Selenskyj in einer Verhandlungslösung zu akzeptieren bereit sei. Aus Sicht der Ukraine könne es auch als ein Sieg gelten, wenn Russland so weit unter Druck gerate, dass es einem Abkommen zustimme und sich zurückziehe.

Denkbar ist allerdings auch ein ganz anderes Szenario: Dass Putin den Krieg noch weiter eskalieren lässt – ob in voller Absicht oder aufgrund von Fehleinschätzungen. In vielen Teilen Europas ist die Sorge jedenfalls gross, dass er in der Ukraine chemische oder gar nukleare Waffen einsetzen oder seinen Angriff auf benachbarte Nato-Staaten ausweiten könnte. Der bulgarische Ministerpräsident Kiril Petkow betonte kürzlich, dass kein Land in Europa mehr «in der Illusion leben» könne, dass es sicher sei.

«Die Spielregeln werden dauernd verändert», gibt auch Nina Chruschtschowa, die Enkelin des ehemaligen sowjetischen Staatschefs Nikita Chruschtschow ist und in New York Internationale Politik lehrt, im «Spiegel» zu bedenken. «Es geht nicht so sehr um die Ukraine, sondern um die Konfrontation mit dem Westen.»

AP/gbi