«Ich will kein Blut und keine Gewalt»Polizeigewalt in Belarus: Oppositionelle flieht in EU
dpa / SDA
11.8.2020
Immer brutaler geht der Machtapparat von Alexander Lukaschenko in Belarus gegen Bürger vor. Doch die grössten Proteste in der Geschichte des Landes gegen Wahlfälschungen reissen nicht ab. Die Oppositionelle Tichanowskaja bringt sich in Sicherheit.
Nach neuer massiver Polizeigewalt in Belarus (Weissrussland) mit einem Toten hat die Präsidentenkandidatin Swetlana Tichanowskaja sich im EU-Nachbarland Litauen in Sicherheit gebracht.
«Ich will kein Blut und keine Gewalt», sagte die 37-Jährige in einem am Dienstag veröffentlichten Video. Auf einer Couch sitzend liest sie die Botschaft ab und blickt kein einziges Mal in die Kamera. Ihr Wahlkampfstab teilte mit, dass das Video unter Druck der Behörden entstanden sei.
Die grössten Proteste in der Geschichte des Landes gegen die beispiellose Wahlfälschung unter dem seit 26 Jahren regierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko gingen weiter. 200 Verletzte lagen am Dienstag im Krankenhaus, wie Ärzte mitteilten. Das Innenministerium sprach von 2'000 Festnahmen.
«Der Stab hat die Unterstützer und den Machtapparat zum Verzicht auf Gewalt aufgerufen», sagte Olga Kowalkowa vom Team Tichanowskajas. Der Kampf gegen «Europas letzten Diktator» gehe aber dennoch weiter. Offenbar sei Tichanowskaja über Stunden in der Wahlleitung dem Druck ranghoher Beamter ausgesetzt gewesen und zu der Mitteilung an ihre Unterstützer, keinen Widerstand mehr zu leisten, gezwungen worden. Tichanowskaja gelte weiter als Siegerin der Präsidentenwahl vom Sonntag, sagte Kowalkowa.
Beschäftigte in mehreren Staatsbetrieben, darunter in eine Metallfabrik, folgten Aufrufen der Opposition, von Dienstag an die Arbeit niederzulegen. Der Streik in den Betrieben, die zum Funktionieren der Ex-Sowjetrepublik beitragen, soll den Machtapparat von Lukaschenko brechen.
Erneut viele Verletzte
Zuvor hatte es in der zweiten Protestnacht zum Dienstag erneut viele Verletzte gegeben. Auf vielen Videos war zu sehen, wie Männer in schwarzen Uniformen mit Knüppeln wahllos auf friedliche Bürger einprügelten. Die Polizei setzte erneut Gummigeschosse, Wasserwerfer und Blendgranaten gegen Demonstranten ein. Die Verletzten zeigten auf Bildern und Videos ihre mit Blut überströmten Gesichter und Körper.
Das Land zwischen EU-Mitglied Polen und Russland hat noch nie solche Ausschreitungen erlebt. Die von Tichanowskajas Mann Sergej vor seiner Inhaftierung gegründete Bewegung Ein Land zum Leben (Strana dlja Schisni) schrieb nach siebenstündigen Kundgebungen: «Das war ein historischer Abend». Die Tage Lukaschenkos seien gezählt, weil er Krieg gegen sein Volk führe.
Nach Darstellung der Behörden soll auch ein Sprengsatz in der Hand eines Mannes explodiert sein, den er auf Spezialeinheiten der Polizei werfen wollte. Überprüfbar war das nicht. In einem anderen Video war zu sehen, wie ein Uniformierter auf einer Kreuzung womöglich absichtlich von einem Auto angefahren wurde.
Unübersichtliche Lage in 30 Städten
Die Lage ist nach Protesten in mehr als 30 Städten des Landes insgesamt unübersichtlich. Das Innenministerium sprach am Dienstag von 2000 Festnahmen und 20 verletzten Sicherheitskräften. Lukaschenko hatte auch mit dem Einsatz der Armee gedroht, um sich nach mehr als einem Vierteljahrhundert an der Macht eine sechste Amtszeit zu sichern. In sozialen Netzwerken kursierten aber auch Fotos von Uniformierten, die sich demonstrativ auf die Seite der Demonstranten stellten. Sie wurden als «Helden» gefeiert.
Kommentatoren sprachen zuletzt von der «Geburt der Nation Belarus», die sich rund 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erst jetzt so richtig eine Identität gebe – und sich abnabeln wolle vom grossen Nachbarn Russland. Wirtschaftlich ist das Land von Russland abhängig. Kremlchef Wladimir Putin hatte Lukaschenko zu seinem mit 80,08 Prozent angegebenen Wahlsieg gratuliert. Tichanowskaja wurden offiziell nur 10,09 Prozent zugesprochen. Ihr Stab geht dagegen von einem Sieg bei zwischen 70 und 80 Prozent für Tichanowskaja aus.
Hoffnung auf die EU
Die demokratischen Kräfte in Belarus hoffen auf Unterstützung auch von der Europäischen Union. Doch eine schnelle Reaktivierung von EU-Sanktionen gegen die Führung von Belarus ist derzeit nicht in Sicht. Der Sprecher des EU-Aussenbeauftragten Josep Borrell sagte, dass nach der umstrittenen Wahl zunächst eine Lagebeurteilung nötig sei. Der litauische Aussenminister Linas Linkevicius teilte im Kurznachrichtendienst Twitter mit, dass Tichanowskaja in dem EU-Land in Sicherheit und versorgt sei und bleiben dürfe.
Sie habe sich als Mutter dafür entschieden, bei ihren Kindern in Litauen zu sein, sagte Tichanowskaja in einem weiteren, bereits dort aufgenommenen Video. Sie war zur Wahl als Kandidatin angetreten, weil ihr Mann Sergej als politischer Gefangener inhaftiert ist. «Viele werden mich verstehen, mich verurteilen oder hassen. Aber Gott bewahre, dass die je vor so einer Wahl stehen müssen, wie ich es musste», sagte sie. Die Staatsmedien in Belarus legten ihr das als Schwäche und Niederlage aus.
Tichanowskaja wolle vom sicheren Ausland aus weiter aktiv sein und ihren Sieg mit demokratischen Mitteln verteidigen, sagte ihre Vertraute Kowalkowa dem Internetportal tut.by zufolge. Die belarussischen Behörden selbst hätten die Kandidatin ausser Landes gebracht. «Sie hatte keine Wahl. Wichtig ist, dass sie in Freiheit und am Leben ist.» Tichanowskaja habe mit ihrer Flucht auch die Freilassung ihrer Wahlkampfleiterin Maria Moros erreicht. Moros sei eine «Geisel» gewesen, beide reisten demnach gemeinsam aus.
Internationale Appelle
Experten gingen zunächst nicht davon aus, dass die Ausreise Tichanowskajas zu einem Abflauen der Proteste führen wird. «Sie ist vor allem die Symbolfigur und kann auch aus dem Ausland mit Videos Botschaften senden», sagte die belarussische Expertin Maryna Rakhlei der Deutschen Presse-Agentur. Tichanowskaja sei zuletzt Gefahr gelaufen, verhaftet und wegen der Zerstörungen und Gewalt mit Toten und Verletzten angeklagt zu werden.
International gab es Appelle für ein Ende der Gewalt in Belarus. Die Aussenminister von Lettland, Polen, Finnland und Estland forderten bei einer Pressekonferenz in Riga die Freilassung der Gefangenen und eine friedliche Lösung der Krise. Sie unterstützten einen Vorschlag Polens, auf EU-Ebene ein Treffen zu Belarus einzuberufen.