Frauenrechtlerinnen in Polen nehmen in ihrem Zorn über das Abtreibungsurteil des Verfassungsgerichts die katholische Kirche ins Visier. Es kommt zu Szenen, die eine Generation zuvor noch undenkbar waren.
Aus Empörung über das Abtreibungsurteil des Verfassungsgerichts haben Frauenrechtlerinnen in Polen Sonntagsgottesdienste gestört und sind am Abend auf die Strassen gegangen. Manche riefen Sprechchöre, andere bedachten Priester mit Obszönitäten. Gläubige reagierten verärgert.
Das Verfassungsgericht hatte am Donnerstag die Abtreibung von Embryos mit angeborenen Fehlbildungen für verfassungswidrig erklärt. Nach Zahlen des Gesundheitsministeriums wurden die meisten der 1’110 im vergangenen Jahr gesetzeskonform erfolgten Schwangerschaftsabbrüche mit Fehlbildungen oder Gendefekten begründet. Polen hat eine der strengsten Abtreibungsgesetzgebungen in Europa, durch das Urteil werden Abtreibungen nahezu ganz verboten. Abtreibungen sind in Polen dann nur noch bei Gesundheitsgefahr für die Mutter, nach einer Vergewaltigung oder anderen Verbrechen gestattet.
«Wir haben genug»
Die Organisation Frauenstreik kritisierte, es bedeute unnötiges körperliches und seelisches Leid, wenn Frauen gezwungen würden, schwer geschädigte Kinder zur Welt zu bringen. Die Gruppe rief zu Protesten auf.
Kirchen wurden mit Parolen besprüht, aber auch mit Telefonnummern von Organisationen, die Abtreibungen im Ausland ermöglichen. In Warschau stellte sich eine junge Frau mit einem Schild neben den Altar, auf dem zu lesen stand: «Lasst uns beten für das Recht auf Abtreibung».
In Neustettin (Szczecinek) umzingelten junge Frauen einen Priester und schrien: «Geh zurück in die Kirche» und «Verpiss dich», wie auf einem Video zu sehen war. Eine Aufnahme der Organisation Grupa Stonewall zeigte, wie in Posen eine Gruppe in einer Kirche rief: «Wir haben genug». Gläubige antworteten mit der Bezeichnung «Barbaren». In Warschau blockierte eine Gruppe Rechtsnationalisten die Treppen zu einer Kirche. Eine Frau, die sich hindurchzwängen konnte, wurde gepackt und die Treppe hinunter gezwungen.
Autoritätsverlust der katholischen Kirche
Am Abend kam es in Warschau, Danzig und anderen Städten den vierten Tag in Folge zu Demonstrationen. In Posen schützte berittene Polizei eine Kirche. In Kattowitz trennte die Polizei Demonstranten von Anhängern der ultranationalistischen Organisation Allpolnische Jugend. In Nowy Dwor Gdanski unterstützen Bauern die Frauenproteste und fuhren mit Traktoren durch die Stadt. «Wir wollen Wahlmöglichkeit und keinen PiS-Terror», stand auf einem zu lesen. PiS ist die polnische Abkürzung für die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit.
Viele Szenen illustrieren den Autoritätsverlust der katholischen Kirche, die in Polen zu Zeiten des Kommunismus eine allgemein respektierte moralische Instanz war. Einige twitterten, die Leute sollten die Politik aus den Kirchen heraushalten, andere konterten, die katholische Kirche habe sich selbst politisiert, als sie ein totales Abtreibungsverbot gefordert habe. Dafür habe sie die nationalkonservative Regierung und in einigen Fällen sogar rechtsradikale Gruppen unterstützt.
Die Organisation Frauenstreik hat für kommende Woche zu neuen Protesten aufgerufen.
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