Nach Erfolgen im Donbass erlahmt die russische Offensive. Im Süden drängt die ukrainische Armee die Angreifer sogar zurück. Während Kiew von westlichen Waffen profitiert, pfeift Putins Armee aus dem letzten Loch.
Wenn Wolodymyr Selenskyj per Video verneinen muss, auf der Intensivstation zu liegen, und wenn Oleksij Danilow als Sekretär des ukrainischen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats versichert, es seien keine Himars-Systeme zerstört worden, dann zeigt das vor allem eines: Die russische Propaganda läuft auf Hochtouren. Was wiederum erahnen lässt, dass es an der physischen Front gerade nicht so gut läuft für die Russen.
Gerade noch hat sich die Militär-Maschinerie des Kreml dank der Übermacht ihrer Artillerie langsam, aber stetig im Donbass vorgearbeitet, doch nun ist die Offensive offenbar zum Erliegen gekommen. Das sieht auch der Chef des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 so: «Ich denke, ihnen wird jetzt der Dampf ausgehen», sagt Richard Moore beim Aspen Security Forum im US-Bundesstaat Colorado.
Es werde Moskau in den nächsten Wochen schwerfallen, Nachschub an Mensch und Material aufzubieten. «Sie werden irgendwie pausieren müssen, und das gibt der Ukraine die Gelegenheit, zurückzuschlagen. Ihre Moral ist hoch und sie bekommen eine immer grössere Anzahl guter Waffen.» Der Krieg sei für Kiew durchaus «gewinnbar», so Moore.
Norwegische Panzerhaubitzen vom Typ M-109 im Einsatz in der Ukraine.
Da wird der ukrainische Präsident nicht widersprechen. In seiner täglichen Videoansprache sagt Selenskyj am Abend des 21. Juli, dass er sich mit seinen obersten Militärs besprochen habe. «Wir waren uns einig, dass unsere Kräfte starkes Potenzial haben, auf dem Schlachtfeld vorzurücken und den Besatzern signifikante neue Verluste zuzufügen», verkündet der 44-Jährige.
Russland gerät in Cherson in die Defensive
Was er damit meint, sieht man zum einen in Wuhlehirsk in der Oblast Donezk. Während das Städtchen seit 2015 von pro-russischen Rebellen kontrolliert wird, besetzen ukrainische Kräfte das dortige Atomkraftwerk, das das zweitgrösste des Landes ist. Nun haben sie erneut Angriffe zurückgeschlagen: Das AKW bleibt in ukrainischer Hand.
Ausserdem macht die ukrainische Armee in der Oblast Cherson Druck: In Wyssokopillja sollen russische Truppen eingekesselt worden sein. Ausserdem will Kiew zwei Munitionsdepots und fünf Festungsanlagen zerstört haben. Allein am 21. Juli will die Armee im Süden elf Militärfahrzeuge, eine Panzerhaubitze und zwei Drohnen «entmilitarisiert» haben.
Auch in Cherson selbst stehen die Besatzer angeblich vor grossen Nachschubproblemen, nachdem die Antoniwkabrücke zerstört worden ist – und zwar vom berüchtigten Himars-System. Dieses beschert dem Kreml Kopfzerbrechen: In Moskaus Arsenal gibt es keine Artillerie, die auf eine ähnliche Reichweite kommt.
Himars macht den Unterschied
«Bis heute konnten diese Systeme nicht von den Russen eliminiert werden, und jedes Mal, wenn ich so etwas sage, klopfe ich auf Holz», sagt der oberste US-Militär Mark Milley. «Und [die Ukrainer] sind bei ihrer Nutzung sehr effektiv, sie nutzen Präzisionswaffen.» Verteidigungsminister Lloyd Austin bestätigt: «Die Ukrainer nutzen die Himars exzellent und man sieht die Auswirkungen auf dem Schlachtfeld.»
Russland hingegen spielt die Gefahr durch die Waffe herunter. «Das System muss ernst genommen werden, aber es gibt Gegenmassnahmen: unsere Luftabwehr», erklärt General Andrei Kartapolow. Der Russe führt aus, die Himars sei kein «Allheilmittel». Und: «Ich möchte betonen, dass ausländische Spezialisten, also Söldner, sie bedienen. Ich schliesse nicht aus, dass Amerikaner dort arbeiten.»
Doch bisher scheint es Moskau nicht zu gelingen, die Raketen abzufangen. Und nun wird sich die Zahl der Himars-Systeme in der Ukraine von 12 auf 16 erhöhen. Das Pentagon liefert zudem passende Präzisionsraketen. Auch Grossbritannien stockt seine Militärhilfe auf: Neben Panzerabwehr-Waffen und Drohnen soll vor allem Artillerie-Munition verschifft werden. Hinzu kommen 20 155-Millimeter- und 36 105-Millimeter-Geschütze.
Liefert der Westen bald auch Jets?
Die USA erwägen, noch weiter zu gehen: Das Repräsentantenhaus hat gerade ein Budget von 100 Millionen Dollar abgenickt, um ukrainische Piloten in den USA auf F-15- und F-16-Jets zu schulen. Sollte die Massnahme angenommen werden, wäre es nur noch ein kleiner Schritt zu einer tatsächlichen Lieferung der Kampfflugzeuge.
Die Jets könnten aber auch von anderen Staaten gestellt werden: «Es gibt die USA, es gibt den Gripen aus Schweden, es gibt den Eurofighter oder die Rafale», erklärt US-Air-Force-Chef Charles Brown. «Es gibt also verschiedene Systeme, die an die Ukraine gehen könnten.»
Bei den Invasoren läuft es dagegen so gar nicht rund. Moskau hat nicht nur Mühe, Soldaten zu rekrutieren, sondern bildet neue Rekruten auch kaum aus. Nach ein bis zwei Wochen werden die neuen bereits an die Front geschickt. So wie Ivan, der nach nur fünf Tagen gen Westen marschieren musste.
«Jetzt verlieren wir»
«Es gab einen Soldaten in unserer Einheit, der nicht wusste, wie ein Maschinengewehr funktioniert. Also habe ich dem Typen beigebracht, wie man es auseinander- und wieder zusammenbaut», sagt der 31-Jährige der «Moscow Times». «Neben ihm möchte ich in der Schlacht nicht stehen. Wie kann man bloss so kämpfen?»
In Telefonaten, die die Ukraine abgehört haben will, klagt ein russischer Soldat: «Jetzt verlieren wir.» Seine Frau antwortet, dass das wohl nur seine Einheit sei, weil es sonst überall voranginge. «Das ist das Bild, das sie für euch im Fernsehen malen, aber die Realität ist hier völlig anders. Wir verlieren.» Statt 90 hätten sie nur noch 14 Panzer und die Artillerie schiesse kilometerweit daneben.
Gerüchte über hohe Verluste passen ins Bild. Nach ukrainischen Angaben soll Russland bereits 60 Prozent seines Raketenvorrats verbraucht haben. Waffen werden aus Angst vor Himars und anderen Systemen nun angeblich in der Nähe von Atomkraftwerken positioniert, um sie zu schützen.
Dass der Kreml nun offenbar die Luftabwehr-Systeme S-300 und S-400 als unpräzise und ineffiziente Artillerie benutzt oder dass alte T-62-Panzer an die Front rollen, spricht ebenfalls Bände. Das Momentum ist jetzt augenscheinlich auf der Seite der Verteidiger.