Politik Jetzt wirklich: Deutschland schaltet letzte Atomkraftwerke ab

SDA

10.4.2023 - 09:44

PRODUKTION - Das Kernkraftwerk Emsland (Luftaufnahme mit einer Drohne). Nach der Abschaltung des Atomkraftwerks Emsland im niedersächsischen Lingen am 15. April rechnet Betreiber RWE mit einer 14 Jahre dauernden ersten Rückbauphase einschließlich Nachbetrieb. Foto: Sina Schuldt/dpa
PRODUKTION - Das Kernkraftwerk Emsland (Luftaufnahme mit einer Drohne). Nach der Abschaltung des Atomkraftwerks Emsland im niedersächsischen Lingen am 15. April rechnet Betreiber RWE mit einer 14 Jahre dauernden ersten Rückbauphase einschließlich Nachbetrieb. Foto: Sina Schuldt/dpa
Keystone

Es ist so weit: Gut 100 Tage später als zunächst geplant gehen in Deutschland am Samstag die letzten Atomkraftwerke vom Netz. Mit der Abschaltung von Isar 2 (Bayern), Emsland (Niedersachsen) und Neckarwestheim 2 (Baden-Württemberg) geht im bevölkerungsreichsten EU-Land das Atomzeitalter zu Ende.

Mittelfristig soll in Europas grösster Volkswirtschaft der überwiegende Teil des Stroms aus erneuerbaren Energien fliessen. Doch wegen des immer noch hohen Kohleanteils steigen mit dem Atomausstieg die klimaschädlichen CO2-Emissionen.

Eigentlich sollte der vor rund 20 Jahren eingeleitete deutsche Atomausstieg zum 31. Dezember 2022 abgeschlossen sein. Doch weil im Ukrainekrieg die russischen Gaslieferungen versiegten und die Energiepreise in die Höhe schossen, beschloss die «Ampel»-Regierung aus Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen einen «Streckbetrieb» bis zum 15. April. Die drei Reaktoren steuerten im vorigen Jahr noch gut sechs Prozent zur deutschen Stromerzeugung bei. Anfang des Jahrhunderts waren es bei 19 Meilern noch gut 25 Prozent Atomstrom.

Das erste Kernkraftwerk in Deutschland – Kahl in Bayern – hatte 1962 den Betrieb aufgenommen, damals noch als Fortschrittssymbol. Widerstand gegen den Bau von AKWs regte sich erst seit den 70er Jahren. Massive und zum Teil auch gewalttätige Proteste wie in Brokdorf (Schleswig-Holstein) oder Grohnde (Niedersachsen) gingen in die Geschichte der Bundesrepublik ein. Pläne für eine Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben (Niedersachsen) oder in Wackersdorf (Bayern) scheiterten am Widerstand der Bürger.

Aus der deutschen Anti-AKW-Bewegung gingen die Grünen hervor, die 1983 in den Bundestag einzogen. Nach dem Reaktorunfall im damals sowjetischen Tschernobyl 1986 schwenkten auch die einst atombegeisterten Sozialdemokraten ins Lager der Gegner um. Als SPD und Grüne 1998 die Bundestagswahl gewannen und SPD-Mann Gerhard Schröder CDU-Kanzler Helmut Kohl ablöste, beschloss Rot-Grün den Atomausstieg. Der Neubau von Atomkraftwerken wurde verboten und die Laufzeit aller vorhandenen Anlagen auf je 32 Jahre begrenzt. Anfang der 2020er Jahre sollte Schluss sein.

Im Oktober 2010 beschloss die christlich-liberale Regierung unter Angela Merkel (CDU) gegen heftigen Widerstand eine Verlängerung der Atomlaufzeiten um im Schnitt zwölf Jahre. Fünf SPD-regierte Bundesländer klagten vor dem Bundesverfassungsgericht, doch noch bevor sich die höchsten Richter der Causa annehmen konnten, kam es im März 2011 zur Kernschmelze im japanischen Atomkraftwerk Fukushima.

Womöglich auch mit Blick auf kommende Landtagswahlen entschied sich nun Merkel selbst für den Atomausstieg, der in einigen Punkten über den von Rot-Grün hinausging. 8 der damals noch 17 Reaktoren wurden sofort abgeschaltet, für die übrigen 9 das Enddatum im Atomgesetz festgeschrieben. Seit Anfang 2022 sind nur noch Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 in Betrieb.

«Die Risiken der Atomkraft sind letztlich unbeherrschbar, und deshalb macht der Atomausstieg unser Land sicherer, und er vermeidet weiteren Atommüll», sagte Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) Ende März vor der Presse. Dagegen würden die mitregierenden Liberalen die drei AKWs noch bis Ende 2024 weiterlaufen lassen. Für die christdemokratische Opposition forderte Fraktionsvize Jens Spahn darüber hinaus, zu prüfen, welches der Ende 2021 abgeschalteten Kraftwerke Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen C wieder ans Netz genommen werden könnte.

Die Industrie kritisiert den Ausstieg, hat sich aber mit der Entscheidung abgefunden. «Klar ist: Wir schalten damit eine der sichersten, produktivsten und besten Anlagen der Welt aus», sagte der Vorstandschef des Energiekonzerns Eon, Leonhard Birnbaum, Mitte März über Isar 2. Diese «Weltklasse-Anlage» sei in den 35 Betriebsjahren zehnmal als die produktivste und sicherste Anlage der Welt ausgezeichnet worden, so Birnbaum.

Weltweit dürfte der deutsche Atomausstieg wenig ins Gewicht fallen. Nach Angaben der deutschen Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit sind zurzeit 422 Kernreaktoren in Betrieb, die zwischen zehn und elf Prozent des Stroms dieser Erde erzeugen. In Europa kamen 2020 rund 21 Prozent des Stroms aus Kernkraftwerken.

Frankreich, mit 56 AKWs weltgrösster Atomstromproduzent nach den USA, prüft derzeit den Bau von 14 neuen Anlagen. «Die Kernenergie ist ein Trumpf für Europa», sagte Energieministerin Agnès Pannier-Runacher in einem Interview der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Nach dem deutschen Ausstieg setzen aber nur noch 12 von 27 EU-Ländern auf Atomkraft. «Es ist nicht sicher, es ist nicht schnell, und es ist nicht günstig, und es ist auch nicht klimafreundlich», befand kürzlich Luxemburgs Ministerpräsident Xavier Bettel.

Nicht auszuschliessen, dass Deutschland irgendwann mal Atomstrom aus Frankreich importieren muss, wenn es daheim nicht reicht. Dies hängt im Wesentlichen vom Erfolg der «Energiewende» ab, also der Umstellung der Stromerzeugung auf erneuerbare Energien. Denn Deutschland will auch aus der klimaschädlichen Kohle aussteigen – bis 2030 im Westen und bis spätestens 2038 im Osten der Republik.

Der Anteil der Kohle am Gesamtstrom ist aber im vorigen Jahr in Deutschland nach der Abschaltung von drei AKWs zum Jahresende 2021 auf 31,4 Prozent gestiegen (2021: 27,8 Prozent). Um eine «Stromlücke» zu vermeiden, soll der Anteil der Erneuerbaren – also vor allem Windräder, Sonnenkollektoren und Biostromanlagen – nach den Plänen der «Ampel» von knapp 44 Prozent im vorigen Jahr auf 80 Prozent 2030 steigen. Dafür sollen unter anderem zwei Prozent der Landesfläche für den Bau von Windrädern ausgewiesen werden. Proteste von Anwohnern gegen die «Verspargelung der Landschaft» sind absehbar.

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