Tichanowskaja: Belarus würde Wagner-Chef jederzeit Putin ausliefern
Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin ist nach Ansicht der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja auch in Belarus nicht sicher.
09.07.2023
Nach dem abgebrochenen Aufstand kehrt Wladimir Putin mit eisernem Besen aus. Der Gewinner des Machtkampfes mit Jewgeni Prigoschin ist Sergei Schoigu. Dabei ist Kritik am Verteidigungsminister sehr berechtigt.
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
- Die Moral der russischen Armee ist nach dem abgebrochenen Aufstand im Keller.
- Die Soldaten kritisieren Dinge, die auch Jewgeni Prigoschin angeprangert hat.
- Dennoch ist Verteidigungsminister Schoigu aus dem Konflikt mit der Gruppe Wagner, die weitgehend aufgelöst wird, als Sieger hervorgegangen.
- Die Rebellion war in Sicherheitskreisen vorab bekannt. Der FSB soll zwei Tage zuvor davon erfahren haben.
- Nach der Verhaftung von General Surowikin wird mit einer Säuberungswelle gerechnet.
Die Soldaten haben genug. 150 Mann war die Storm-Z-Einheit einst stark, die aus russischen Ex-Häftlingen besteht. «Das ist, was davon übrig ist», sagt der Wortführer am 28. Juni. Hinter ihm stehen 16 oder 17 Kameraden.
Sie hätten keine Munition bekommen, kein Essen und kein Wasser. Weder Verwundete noch die Leichen würden abtransportiert. Sie seien gerade erst an der Front gewesen – und nun müssen sie wieder zurück, klagt der Sprecher.
«Wir werden von hier niemals zurückkehren», ruft einer im Hintergrund. Und der Wortführer ergänzt, man werde nicht mehr an die Front gehen, sondern sich der Militärpolizei ergeben. «Wenn jemand stirbt, ist das nicht an der Front passiert. Dann wurde er einfach von den eigenen Leuten exekutiert.»
FSB erfuhr zwei Tage vorher vom Aufstand
Das Video bestätigt die Kritikpunkte, die auch Jewgeni Prigoschin immer wieder vorgetragen hat: Soldaten werden verheizt und ihnen werden Waffen und Munition vorenthalten – im Fall der Gruppe Wagner, damit diese im Vergleich zur regulären Armee an Einfluss verliert.
Als Verteidigungsminister Sergei Schoigu beschliesst, alle Söldner zum 1. Juli unter Vertrag mit der Armee zu nehmen, wehrt sich Prigoschin zunächst. Doch Wladimir Putin stärkt Schoigu den Rücken – und Prigoschin beginnt mit der Planung seiner Rebellion gegen die Militärführung.
Die Meuterei sei «in russischen Sicherheitskreisen weithin bekannt» gewesen, berichtet die «Financial Times». Am 21. Juni bekommt der Geheimdienst FSB Wind von der Sache, weiss das «Wall Street Journal». Die Aufständischen legen in 14 Stunden 800 Kilometer zurück und schiessen sechs Helikopter und ein Flugzeug ab. 13 Soldaten kommen ums Leben.
Weitere Verhaftungen werden wohl folgen
Als die Rebellion abrupt endet, werden die Wagner-Söldner in Rostow mit Applaus verabschiedet. Doch nun beginnen die Säuberungen: «Putin wusste von [Prigoschins Plänen] im Voraus und konnte sich zu einem gewissen Grad vorbereiten», erklärt ein Offizieller aus dem Westen der «Financial Times». «Er konnte sehen, wer was an dem Tag gemacht hat. Und jetzt räumt er auf.»
Prigoschin geht ins Exil nach Belarus. Seine Soldaten können ihm dorthin folgen, in die reguläre Armee eintreten oder ein ziviles Leben führen. General Sergei Surowikin, der dem Wagner-Boss nahestehen soll, wird verhaftet. «Wir gehen davon aus, dass noch weitere Leute folgen», sagt der westliche Offizielle.
Die Auflösung der Gruppe Wagner nimmt Formen an. Rekrutierungsplakate verschwinden aus dem öffentlichen Leben, das Verteidigungsministerium zieht ihr schweres Gerät ein und die Söldner sollen in der Ukraine nicht mehr zum Einsatz kommen, teilt Moskau mit.
Schoigu als Gewinner der Krise
Der stellvertretende Aussenminister ist extra nach Damaskus und weiter nach Mali geflogen, um dort klarzumachen, dass Wagner auch im Ausland nicht mehr unabhängig arbeiten darf. Wer dort das Sagen übernimmt, ist jedoch noch unklar.
Der grosse Gewinner des Machtkampfes ist der Verteidigungsminister, meint Tatjana Stanowaja vom Carnegie Russia Eurasia Centre. Es sei ihm nicht nur gelungen, Wagner zu eliminieren, sondern auch, seine Kritiker aus dem Weg zu räumen. «Was auch immer Surowikins wirkliche Rolle war: Schoigu wird versucht sein, ihn als Verschwörer darzustellen. Es ist sehr einfach, aus Sympathisanten Verschwörer zu machen.»
Ein weiterer Gewinner ist Wiktor Solotow, der Chef der Nationalgarde: Diese soll nun schwere Artillerie und Panzer bekommen, um eine Wiederholung des Aufstandes zu verhindern. Die Nationalgarde soll ausserdem verstärkt in der Ukraine eingesetzt werden.
Moral der russischen Soldaten im Keller
Wladimir Putin bemüht sich nun, in der Öffentlichkeit den Eindruck von Schwäche zu vermeiden. Das spiegelt sich in der russischen Propaganda wider, die seit dem Prigoschin-Drama besonders euphorisch über den Präsidenten äussert.
Dass das auch bei den Soldaten an der Front wirkt, ist unwahrscheinlich. Sie haben Prigoschins Kritik an der Militärspitze nicht vergessen, müssen nun aber mitansehen, wie der Kreml an Schoigu und Gerassimow festhält. Sie sehen, dass vor allem Arme und ethnische Minderheiten eingezogen werden, während Weisse aus Moskau und St. Petersburg zu Hause bleiben.
Sie bekommen mit, dass Gegner über die russische Grenze nach Belgorod ziehen, ohne dass ihnen jemand widersteht. Sie verstehen, dass der Westen seine Militärhilfen für Kiew nicht einstellen wird, und wissen, dass Russland so einen Rüstungswettlauf nicht gewinnen kann. Sie leben in Angst vor Drohnen und Artillerie, doch wenn sie fliehen, werden sie von den eigenen Leuten erschossen. Wie lange soll das gutgehen?
Hinzu kommen immer wieder Anschläge an der Heimatfront. Fakt ist: Auch nach Prigoschins Gang ins Exil, der Verhaftung von General Surowikin ist die Sicherheitslage in Russland prekär. Selbst wenn Wagner aufgelöst ist, wird das Feuer, das Prigoschin entfacht hat, im Untergrund weiter schwelen.