Vorwurf der USAIst Putins Krieg in der Ukraine Völkermord?
Von Oliver Kohlmaier
13.4.2022
US-Präsident Joe Biden wirft Wladimir Putin vor, in der Ukraine einen Völkermord zu begehen. Was der Begriff bedeutet, und warum Expert*innen zurückhaltender sind.
Wegen der Kriegsgräuel in der Ukraine hat der US-Präsident dem Kremlchef Völkermord vorgeworfen. «Ich habe es Völkermord genannt, denn es wird klarer und klarer, dass Putin einfach versucht, die Idee, überhaupt Ukrainer sein zu können, auszuradieren», sagte Biden am Dienstag (Ortszeit) bei einem Besuch im US-Bundesstaat Iowa.
Von mitreisenden Journalist*innen auf seine Aussage angesprochen, sagte Biden: «Die Beweise häufen sich. Es sieht anders aus als letzte Woche. Es kommen buchstäblich immer mehr Beweise für die schrecklichen Dinge ans Licht, die die Russen in der Ukraine getan haben.»
Wolodymyr Selenskyj lobte die Worte Bidens umgehend. Der ukrainische Präsident hatte den russischen Truppen angesichts von Gräueltaten gegen Zivilisten schon früher Genozid vorgeworfen.
Putin legte vor
Nun ist Völkermord kein Begriff, mit dem man einfach so um sich wirft — schon gar nicht im aktuellen Konflikt. Denn Putin höchstselbst begründet seinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg mit einem angeblichen Genozid an der russischssprachigen Bevölkerung in der Ukraine.
Für diesen Vorwurf gibt es keinerlei Beweise. Den Anhaltspunkt, dass ukrainische Behörden die Verwendung der russischen Sprache etwa im Rundfunk untersagten, machte er kurzerhand zum Genozid.
Der Kremlchef wurde für diesen und weitere Vorwürfe international gescholten, Putins Völkermord-Vorwurf sei eine gefährliche Verharmlosung eines solchen Verbrechens.
Natürlich weiss das auch Joe Biden. Der Zeitpunkt seines eigenen Genozid-Vorwurfs dürfte nach den Vorfällen in Butscha jedoch nicht zufällig gewählt sein. Von ihm sowie anderen hochrangigen US-Offiziellen war das Wort bisher nicht zu hören — im Gegensatz zu «Kriegsverbrechen».
Der Nationale Sicherheitsberater Bidens, Jake Sullivan, sagte am Wochenende zwar, die jüngst bekannt gewordenen Gräueltaten unter anderem im Kiewer Vorort Butscha seien eindeutig Kriegsverbrechen. Der Frage, ob es sich auch um Genozid handle, wich Sullivan aus.
Völkermord wird gelegentlich mit Kriegsverbrechen verwechselt oder gleichgesetzt, geht jedoch weit darüber hinaus. Es ist ein drastischer Vorwurf — vom Ruanda-Tribunal seinerzeit als «Verbrechen der Verbrechen» bezeichnet.
Der Begriff Genozid wurde geprägt von dem polnischen Juristen Raphael Lemkin, auf den auch die Definition zurückgeht. Die 1948 verabschiedete und 1951 in Kraft getretene Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes bezeichnet den Begriff als Straftatbestand, der durch die Absicht gekennzeichnet ist, auf direkte oder indirekte Weise «eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören».
Dazu gehören laut Konvention nicht nur gezielte Tötungen, sondern darüber hinaus auch schwere körperliche und seelische Schäden sowie die «vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung» herbeizuführen.
Um den Straftatbestand zu erfüllen, reicht allein die Absicht — entsprechende Pläne müssen dafür nicht auch vollständig durchgeführt werden.
Nur der internationale Strafgerichtshof kann einen Völkermord feststellen
Völkermord gehört laut UN-Konvention nicht zum klassischen Völkerrecht, sondern zum Völkerstrafrecht und kann sich somit neben Staaten auch gegen Einzelpersonen richten. Die Schweiz trat der Konvention erst am 7. September 2000 bei, der Straftatbestand Völkermord ist im schweizerischen Strafgesetzbuch entsprechend der UNO-Konvention definiert.
Nur der Internationale Strafgerichtshof kann einen Völkermord feststellen, er wird auf Anweisung des UNO-Sicherheitsrats tätig.
Auch Biden betont, dass letztlich Juristen auf internationaler Ebene entscheiden müssen, ob es sich um Genozid handle oder nicht.
Die Kriterien für Völkermord sind streng, die Sammlung von eindeutigen Beweisen schwierig. Nach den Vorfällen in Butscha sprachen einige Völkerrechtler*innen durchaus von Genozid, viele andere sind zurückhaltender.
So forderte etwa die legendäre ehemalige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs Carla Del Ponte zuletzt zwar vehement einen internationalen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten.
Bislang sieht die Tessinerin jedoch keine Anzeichen für einen Genozid in der Ukraine. Sie habe noch nicht genug Elemente gesehen, die es rechtfertigen würden, von Völkermord zu sprechen, sagte sie am Sonntag am Rande der «Eventi Letterari» auf dem Monte Verità in Ascona.
Die Tessinerin fügte jedoch hinzu, der ukrainische Präsident Selenskyj verfüge vielleicht über andere Informationen.