Experte zum Johnson-Rücktritt «In seinem Fall sind so viele Brücken verbrannt worden»

Von Philipp Dahm

7.7.2022

Rücktritt: Boris Johnson gibt sich geschlagen

Rücktritt: Boris Johnson gibt sich geschlagen

Geschwächt durch eine schwere Regierungskrise hat der britische Premierminister Boris Johnson sich geschlagen gegeben: Er kündigte seinen Rücktritt als Chef der konservativen Tory-Partei an und machte den Weg für die Wahl eines neuen Premierminist

07.07.2022

Gerade noch weigert sich Boris Johnson zurückzutreten – und nun ist er weg. Wird er weiterregieren? Wie ist die Stimmung bei den Konservativen? Und wie geht es mit dem Ex-Premier weiter? Ein Experte ordnet ein.

Von Philipp Dahm

7.7.2022

Herr Slapin, gestern hat Boris Johnson einen Rücktritt noch ausgeschlossen – und nun hat er es doch getan. Was ist in den letzten 24 Stunden passiert?

Es sind so viele hochrangige Kabinettsmitglieder zurückgetreten und haben ihm recht offen mitgeteilt, dass sie nicht länger willens sind, in seiner Regierung zu dienen. Es ist immer deutlicher geworden, dass ihn die Regierungspartei in der Rolle des Premierministers nicht mehr unterstützt. Er hat letzlich realisiert, dass es nicht mehr genug Leute gibt, die in seinem Kabinett arbeiten wollen.

Zur Person
UZH

Jonathan Slapin ist Professor für Politische Institutionen und Europäische Politik an der Universität Zürich. Er hat an der Rutgers University, New Jersey, studiert und an der University of California in Los Angeles promoviert. Nach Stationen an der Universität von Nevada, Las Vegas, dem Trinity College, Dublin, der Universität von Houston und der Universität von Essex lehrt er seit August 2019 in der Limmatstadt.

Ist es normal, das eine Amt abzugeben und das andere durchzuziehen?

Er hat signalisiert, bis zum Herbst bleiben zu wollen, bis die Tories ihre Führung wählen. Das könnte sich auch schnell wieder ändern. Man muss sehen, ob er dazu in der Lage sein wird. Es gab Stimmen bei den Konservativen, die ihn gern zwingen würden, jetzt als Premier zurückzutreten und Dominic Raab als Übergangspremier aufzubieten. Es ist aber auch nichts Ungewöhnliches für Grossbritannien, dass ein Parteivorsitzender zurücktritt, aber als Premier im Amt bleibt, bis der Anführer der Partei gewählt ist. Theresa May ist das auch passiert.

Also reicht Johnsons Einfluss auf seine Partei noch aus?

Im Fall von Boris Johnson bin ich mir nicht sicher, ob ihm die Partei noch zutraut, die Rolle auszufüllen. Es wurde sogar spekuliert, dass er das Parlament auflösen und Neuwahlen ausrufen könnte: Viele Tories sorgen sich darum, was er macht, wenn er die Rolle bis zum Herbst behält. Es ist absolut möglich, dass sie versuchen werden, ihn durch einen Interimspremier zu ersetzen.

Noch-Premierminister Boris Johnson (Mitte) rauft sich am 6. Juli im britischen Unterhaus die Haare.
Noch-Premierminister Boris Johnson (Mitte) rauft sich am 6. Juli im britischen Unterhaus die Haare.
Keystone

Was hat ihm am Ende politisch das Genick gebrochen?

Ich denke, es ist die Summe aller Skandale – einer folgte dem nächsten. Vor einigen Wochen musste er sich der Vertrauensfrage stellen und hat es gerade geschafft, diese zu überstehen. Aber seine Unterstützung ist seither geschwunden – gerade nach dem jüngsten Belästigungsskandal mit Chris Pincer. Der Rücktritt ist eine Ansammlung vieler Dinge, die schon seit einiger Zeit geköchelt haben.

Täuscht der Eindruck, dass Johnson die Aussenpolitik genutzt hat, um von der Innenpolitik abzulenken?

Das ist gut möglich, aber schwer zu sagen. Es wäre sicherlich nichts Ungewöhnliches für einen Politiker. Johnson hat sich insbesondere mit seiner Unterstützung für die Ukraine hervorgetan. Vielleicht hat er das getan in der Hoffnung, von den Problemen zu Hause abzulenken, aber man weiss eben auch nicht, was er getan hätte, wenn es keine innenpolitische Skandale gäbe.

Wie sieht Johnsons politische Zukunft aus?

Er ist politisch wahrscheinlich durch: Ich sehe für ihn in der Politik keine grosse Zukunft. Aber normalerweise spielen frühere britische Premiers auch keine grosse Rolle mehr in der Politik, nachdem sie zurückgetreten sind. Viele bleiben eine Zeit lang noch Abgeordnete, aber ohne in der Partei eine Führungsrolle zu übernehmen. In seinem Fall sind so viele Brücken verbrannt worden, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass er noch eine Rolle spielt. Die Frage ist eher, ob er in irgendeine Art und Weise noch eine öffentliche Person bleiben wird: Vielleicht geht er in den Journalismus zurück. Aber seine Tage als gewählter Politiker und Anführer der Konservativen sind wohl vorbei.