Recht auf Selbstverteidigung Immer mehr Tote und immer mehr Waffen in den USA

AP/phi

28.11.2021

40'000 Blumen vor dem Kapitol

40'000 Blumen vor dem Kapitol

Vor dem US-Kapitol befindet sich derzeit das Gun Violence Memorial. Eine Gedenkstätte für die zahlreichen Menschen, die jedes Jahr in den USA an Waffengewalt sterben. Die Aktion dient gleichzeitig auch als Aufruf zum Handeln für ein strengeres Waffengesetz im Land.

24.11.2021

Pistolen und halbautomatische Gewehre gehören in vielen US-Städten zum Strassenbild. Welche Gefahren dies birgt, wurde zuletzt vor allem in Kenosha deutlich. Waffen-Befürworter pochen dennoch auf ihr Recht.

AP/phi

Während Kyle Rittenhouse in einem Mordprozess freigesprochen wurde, patrouillierten im Umfeld des Gerichtsgebäudes im US-Staat Wisconsin bewaffnete Zivilisten. Weiter südlich, in Georgia, zeigten Zeugenaussagen im Verfahren zum Tod von Ahmaud Arbery, dass auch in dem Viertel, in dem der 25-jährige Schwarze von drei weissen Männern beim Joggen verfolgt und erschossen wurde, bewaffnete Patrouillen zum Alltag gehörten.

Erick Jordan und seine Tochter Jade, 16, tragen Gewehre vor den Demonstranten, die in Kenosha, Wisconsin, demonstrieren. 
Erick Jordan und seine Tochter Jade, 16, tragen Gewehre vor den Demonstranten, die in Kenosha, Wisconsin, demonstrieren. 
KEYSTONE

Die beiden Fälle sind Beispiele für eine umstrittene Entwicklung. Inmitten zunehmender politischer und oft von Rassismus geprägter Spannungen nehmen immer mehr Amerikaner ihre Waffen mit in den öffentlichen Raum. Zugleich haben mehrere Staaten die Gesetze bezüglich des Tragens und des Einsatzes der Waffen gelockert.

Und selbst dort, wo bisher starke Einschränkungen gelten, könnten Änderungen bevorstehen, wenn der Oberste Gerichtshof eine Regelung aus New York überprüft. Der neue Status quo war vergangene Woche in Kenosha in Wisconsin besonders offensichtlich. Rittenhouse hatte 2020 bei Protesten gegen Polizeigewalt mit einer halbautomatischen Waffe zwei Männer getötet und einen dritten verletzt.

«Wahre Selbstverteidigung»

Nach Auffassung der Jury geschah dies aber aus Notwehr. Etliche rechtskonservative US-Politiker begrüssten den Freispruch. Andere Bürger der etwa hundert Kilometer nördlich von Chicago gelegenen Stadt trugen derweil ihre eigenen Waffen zur Schau. Einer von ihnen war Erick Jordan. «Ich habe einen Job zu erledigen – diese Leute zu beschützen», sagte er mit Verweis auf die Teilnehmer einer Pressekonferenz, die einige Stunden nach dem Urteil stattfand.

Der will doch bloss schützen: Erick Jordan und Tochter Jade.
Der will doch bloss schützen: Erick Jordan und Tochter Jade.
KEYSTONE

Dort sprach auch ein Onkel des Afroamerikaners Jacob Blake, der im Sommer 2020 durch Polizeikugeln schwer verletzt worden war. «Dies ist meine Stadt», sagte Jordan. Auch wenn man sich in Kenosha in vielen Dingen nicht einig sei, so würden am Ende alle sicher und lebend nach Hause gehen wollen. «Das ist wahre Selbstverteidigung.»

Mark McCloskey hatte während der Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung im vergangenen Jahr vor seinem Haus in St. Louis gemeinsam mit seiner Frau mit Schusswaffen auf Demonstranten gezielt. Das Urteil in Kenosha bestätige, dass die Menschen ein Recht hätten, sich selbst gegen einen «Mob» zu verteidigen, sagt der Republikaner, der sich inzwischen um einen Sitz im Senat des Staates Missouri bemüht.

Bestimmungen gelockert statt verschärft

Der Verkauf von Waffen hat in den USA zuletzt deutlich zugenommen – ebenso wie die mit Waffen verübte Gewalt. Allein in diesem Jahr haben zudem sechs US-Staaten die Pflicht abgeschafft, laut der für das Tragen einer Waffe in der Öffentlichkeit zunächst eine Genehmigung eingeholt werden musste.

Was darf's denn sein? Ein Schiessstand in Des Plaines im US-Bundesstaat Illinois.
Was darf's denn sein? Ein Schiessstand in Des Plaines im US-Bundesstaat Illinois.
Archivbild: KEYSTONE

Insgesamt haben inzwischen 30 Staaten sogenannte «Stand Your Ground»-Gesetze erlassen, die es zulässig machen, gegenüber einem Angreifer tödliche Gewalt einzusetzen, ohne zunächst vor diesem zurückzuweichen. In Wisconsin sind die Hürden, um Selbstverteidigung geltend machen zu können, etwas höher.

Rittenhouse gelang es aber, die Jury davon zu überzeugen, dass er sein Leben in Gefahr gesehen habe und das von ihm eingesetzte Mass an Gewalt daher angemessen gewesen sei. Aus Sicht von Ryan Busse, einem ehemaligen Waffenindustrie-Manager, der sich heute als Autor und Berater für gemässigte Waffengesetze einsetzt, zeigt dies, wie sehr die Verbreitung von militärartigen Waffen auf den Strassen der amerikanischen Städte und Vororte zur Normalität geworden ist.

«So etwas passiert in Drittweltländern»

Für «vernünftige Waffenbesitzer» sei diese Entwicklung empörend, sagt Busse. «Wie kann es sein, dass wir das sehen und die Leute sagen einfach: ‹Da ist ein Typ mit einer AR-15.› So etwas passiert in Drittweltländern.» Busse hebt ausserdem hervor, dass vor dem Urteil im Fall des zur Tatzeit erst 17-jährigen Rittenhouse der Anklagepunkt bezüglich des Besitzes einer gefährlichen Waffe durch einen Minderjährigen fallengelassen worden war.

Bob's Little Sport Shop in Glassboro, New Jersey, freut sich über zahlreiche Kunden.
Bob's Little Sport Shop in Glassboro, New Jersey, freut sich über zahlreiche Kunden.
Archivbild: KEYSTONE

In Wisconsin sei es Jugendlichen zwar erlaubt, in Begleitung des Vaters oder eines Onkels ein Jagdgewehr zu tragen, sagt er. Aber hier werde nun eine «alte Waffenkultur» genutzt, um diese «neue, gefährliche Waffenkultur» zu rechtfertigen. Vertreter der amerikanischen Waffen-Lobby setzen sich für einen noch leichteren Zugang zu Schusswaffen und für verlässliche Bestimmungen zur Geltendmachung von Selbstverteidigung ein.

Sie versichern, dass bewaffnete Konflikte trotzdem die Ausnahme bleiben würden. Viele Republikaner bezeichnen Rittenhouse als einen Patrioten, der gegen Gesetzlosigkeit eingetreten sei und von seinen im Zweiten Verfassungszusatz geregelten Rechten Gebrauch gemacht habe. Einer der ersten, die den Freispruch begrüssten, war Ex-Präsident Donald Trump.

Warten auf den Obersten Gerichtshof

Der Streit über das öffentliche Tragen von Waffen entbrannte in den USA zuletzt unter anderem nach einem versuchten Angriff auf das Kapitol des Staates Michigan im vergangenen Jahr und nach dem Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar. In einigen Staaten wurde die Regelungen zumindest bezüglich der Parlamentsgebäude daraufhin verschärft.

Die Capitol Police am 6. Januar im US-Parlament mit den Pistolen am Anschlag.
Die Capitol Police am 6. Januar im US-Parlament mit den Pistolen am Anschlag.
KEYSTONE

Vieles dürfte aber von einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs abhängen. Dort prüfen die Richter, ob die vergleichsweise strengen Gesetze in New York als Verstoss gegen das im Zweiten Verfassungszusatz gewährte Recht auf den Besitz und das Tragen von Waffen zu werten sind.

In mündlichen Anhörungen wurden diesen Monat Bedenken geäussert, dass eine allzu allgemeine Regelung auch Waffenbeschränkungen etwa in U-Bahnen oder in Bars und Stadien infrage stellen würde. Bisher kann in New York auf Antrag – und bei Nachweis eines konkreten Bedarfs – nur das verdeckte Tragen einer Handfeuerwaffe zu Selbstverteidigungszwecken erlaubt werden.