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Menschen im Ukraine-Krieg «Ich wollte einen Kuchen für mein Kind backen, in dieser Hölle»
1.3.2022
Angst, Trauer, Trotz, Wut: Mit dem russischen Einmarsch endete für die Menschen in der Ukraine das Leben, wie sie es kannten, von einem Tag auf den anderen. In den Medien erzählen einige, wie sie die Situation erleben.
«Schnell in Deckung! Sirenen! Die Flugzeuge kommen aus Belgorod! Schaltet die elektrischen Geräte aus, schnell!» Der Geburtstagskuchen für ihren 16-jährigen Sohn sei gerade im Ofen gewesen, berichtet Natalie Slyusar aus Charkiw dem «Guardian», als ihr Mann plötzlich angefangen habe zu schreien. Dann seien sie alle gerannt. Und tatsächlich sei auch ihr neues Haus, der Hof und die Garage getroffen worden. Als sie wieder ins Haus zurückgekommen seien, habe im Ofen dann der verbrannte Geburtstagskuchen auf sie gewartet.
Das sei auch der Moment gewesen, als sie schlagartig das erste Mal habe weinen müssen, sagt Slyusar. «Ich habe keine Angst, nein. Ich wollte nur einen Geburtstagskuchen für mein Kind backen, mitten in dieser Hölle», sagte sie. «Und dann gelingt mir das nicht. Wie zum Teufel konnte das passieren? Warum darf mein Sohn keinen glücklichen 16. Geburtstag haben?» Sie habe dann an sich selbst appelliert, sie müsse sich nun zusammenreissen.
«Wir brauchen einen Plan B, sagte ich mir und nahm die restliche Butter und den Kakao heraus. Kein russisches Kriegsschiff kann mich, eine Ukrainerin, davon abhalten, einen Geburtstagskuchen für mein Kind zu backen. Seid euch also sicher – wir werden auf jeden Fall gewinnen», sagt Slyusar.
«Ich wusste nicht, dass das im 21. Jahrhundert möglich ist»
Ebenfalls in Charkiw beging auch Lyudmyla am Samstag den dritten Geburtstag ihrer dreijährigen Tochter. Wie sie auf Instagram mitteilt, sei die Tochter zum Klang der Salven eingeschlafen. Sie sorge sich, dass «dass das zur Routine wird». Das Schlimmste sei aber natürlich nicht, dass sie kein Geschenk habe kaufen können oder die Geburtstagsfeier ausgefallen sei, «sondern die Tatsache, dass ich Angst um ihr Leben habe, ich habe Angst, mit ihr spazieren zu gehen, ich verbiete ihr, nachts ans Fenster zu gehen und das Licht einzuschalten».
Noch kürzlich habe die Familie für den März eine Reise nach Polen geplant, jetzt sei alles anders. «Ich wusste nicht, dass das im 21. Jahrhundert möglich ist», sagt sie in einem Video, das sie am Montag dem TV-Sender CBS News zukommen liess. Gemeinsam mit ihrem Mann würde sie versuchen, den Krieg so weit wie möglich von der Tochter fernzuhalten. Sie hätten sich auch überlegt, in ein anderes Land zu fliehen. Inzwischen sei die Situation aber sogar zu gefährlich, um auch nur auf die andere Strasse zu gehen. Alles, was sie nun noch tun könne, sei vom Frieden zu träumen – für die Zukunft der Kinder und ihrer Tochter, meint Lyudmyla im Video.
«Es ist viel schlimmer für die Soldaten an der Front»
«Es ist wie ein schrecklicher Traum ... Mir kommt es vor, als würde all das hier nicht mir passieren», sagt die 37-jährige Klavierlehrerin Alla Rutsko der Nachrichtenagentur AP in der Kiewer U-Bahn-Station Pecherskaja, in der sie Schutz sucht, während sie von ihrer Luftmatratze aus den Blick über die Menschen um sie herum schweifen lässt. «In der vierten Nacht konnte ich sogar schlafen und träumen. Aber das Aufwachen ist besonders hart.» Immer wieder muss die Pianistin auf dem tristen U-Bahnsteig an den alten Flügel denken, den sie von ihrem Grossvater geerbt hat und der noch in ihrer Wohnung steht. Hoffentlich, hoffentlich überstehe er den Krieg – so wie schon den letzten, sagt sie.
Der Architekt Denis Schestakow berichtet, er habe seine fünfjährige Tochter Katya in der Enge der U-Bahn mit einem selbst erfundenen Märchen wieder beruhigen können. Aber auch ihr mitgebrachter Hund sei natürlich unruhig. «Wegen dem ganzen Stress fängt er an, sein Fell zu verlieren.» Es sei alles einfach nur ein Albtraum, aber auch an Albträume könne man sich gewöhnen, meint der 32-jährige Schestakow resigniert.
Alles zurückgelassen
Trotz ihrer misslichen Lage wollen er und andere sich nicht gross beschweren. «Es ist viel schlimmer für die Soldaten an der Front», sagt auch die 74-jährige Irina, deren Enkel Anton im Osten der Ukraine kämpft. «Es ist peinlich, sich über den eiskalten Boden, den Luftzug und die fürchterlichen Toiletten zu beschweren.»
Bereits aus der Ukraine geflohen ist Viktorija Smischtschkyk, die im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP in Tränen ausbricht. Die 38-Jährige sitzt gemeinsam mit ihrer Tochter im Foyer eines Hotels im Norden Rumäniens, wo sie gratis übernachten kann. «Wir haben all unsere Sachen zurückgelassen», berichtet sie schluchzend. «Aber das sind nur materielle Dinge – nicht so wichtig wie das Leben unserer Kinder.»
uri, mit Material von AP und dpa