Moskau bedroht Nato-Anwärter Bosnien«Wir haben am Beispiel Ukraine gezeigt, was wir erwarten»
Von Philipp Dahm
6.4.2022
Er forderte 100'000 Todesopfer: Vor 30 Jahren begann der Bosnienkrieg. Heute steckt das Land wieder in einer schweren Krise, die Russland kräftig anfacht. Kein Wunder, dass Bosnien nun auch der Nato beitreten will.
Von Philipp Dahm
06.04.2022, 14:48
Philipp Dahm
Das Thema Kriegsverbrechen ist in Europa und der Welt wieder ein Thema, seit im Krieg in der Ukraine offenbar wird, was sich in Butscha und anderen Städten augenscheinlich zugetragen hat.
Wolodymyr Selenskyj sprach von den schlimmsten Kriegsverbrechen seit dem Zweiten Weltkrieg, doch der ukrainische Präsident denkt in diesem Moment wohl nicht an den Bosnienkrieg, der mit der Anerkennung der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik durch die USA und die EU am 6. April 1992 begonnen hatte und mindestens 100'000 Opfer forderte.
Und tatsächlich ist jener Bürgerkrieg auf dem Balkan auch wegen der Kämpfe in der Ukraine wieder aktuell wie lange nicht mehr. Der Druck auf die Region ist mittlerweile so gross, dass Bosnien und Albanien nun wie Finnland und Schweden den Schutz der Nato suchen, um als unabhängiger Staat überleben zu können.
Putschversuch vor Nato-Beitritt
Albanien und besonders Bosnien haben Angst. Bevor Montenegro 2017 der Nato beigetreten war, hatte Moskau versucht, die Regierung zu stürzen. Auch die Aufnahme von Nordmazedonien 2020 verlief nicht ohne Nebengeräusche: Moskau reagierte auf die Ambitionen so wie bei Kiew, obwohl das Balkan-Land 2400 Kilometer entfernt liegt.
Wenn das West-Bündnis Sarajewo aufnehme, werde Russland «auf diesen feindlichen Akt reagieren müssen», warnte Igor Kalabukhov Mitte März in Sarajevo. «Wir haben am Beispiel der Ukraine gezeigt, was wir erwarten», droht der Botschafter. «Wenn es eine Bedrohung gibt, werden wir reagieren.»
Während die Welt auf die Ukraine schaut, steigt in Bosnien seit Monaten relativ unbemerkt von der globalen Öffentlichkeit die Spannung. Das Problem ist der andauernde Konflikt zwischen Bosniaken, bosnischen Kroaten und jenen Serben, die in der bosnischen serbischen Teilrepublik leben.
Komplizierte Staatswerdung
Der Bundesstaat Bosnien und Herzegowina ist ein Zusammenschluss aus der Republika Srpska und der Föderation Bosnien und Herzegowina. Er ist direkt aus dem Vertrag von Dayton hervorgegangen, der 1995 den Bosnienkrieg beendet hatte.
Das Volk besteht 2013 aus 50,1 Prozent Bosniaken, wie die dortigen Muslime genannt werden, 30,8 Prozent Serben und 15,4 Prozent Kroaten. Den restlichen Bevölkerungsanteil machen Roma, Juden und andere Minderheiten aus.
Die politische Macht ist auf Bundesebene auf die Teilrepubliken und die zehn Kantone der bosnischen Föderation verteilt. Zudem gibt es immer noch ein internationales Mandat in dem vom Bürgerkrieg gezeichneten Land. Der Zentralstaat kümmert sich um die Bereiche Aussen- und Geldpolitik, Verteidigung, Zoll, indirekte Steuern, Bekämpfung schwerer Kriminalität und die Suche von Kriegsverbrechern.
Ein Staat im Staate
Jede Volksgruppe schickt einen Vertreter ins Staatspräsidium, dessen Vorsitz alle acht Monate wechselt. Und während die Teilrepubliken eigene Parlamente und Regierungen haben, gibt es zusätzlich ein Abgeordnetenhaus und eine Kammer des Volkes, die für den Gesamtstaat zuständig sind. In dieser Konstellation kommt es immer wieder dazu, dass serbische Minister ihre eigene Agenda über die des Staates stellen.
Zum Beispiel am 9. Januar 2022, als Serben in der Hauptstadt der serbischen Teilrepublik Banja Luka einen Nationalfeiertag begehen, obwohl der gerichtlich verboten worden ist, aber Helikopter des Innenministeriums daran teilnehmen. Seit dem Jahr 2000 kommt es immer wieder zu Abspaltungsversuchen der bosnischen Serben, die auch einen Nato-Beitritt kritisch sehen.
Im Grunde genommen hallt immer noch nach, was zwischen 1991 und 1995 passiert ist. Im Verlauf des Kriegs kam es zu massiven «ethnischen Säuberungen»: Die UNO schätzt, dass 80 Prozent aller Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowina stattgefunden haben. Sie waren in der serbischen Teilrepublik besonders ausgeprägt.
Nato kontert: «Drohungen sind inakzeptabel»
90 Prozent der Gräueltaten sollen von Serben begangen worden sein: Es geht um massenhafte Ermordungen wie beim Massaker von Srebrenica im Juli 1995 mit rund 8000 Toten, Vergewaltigungen, Deportationen und Vertreibungen. Insgesamt sollen mindestens 100'000 Menschen in dem Bürgerkrieg ums Leben gekommen sein.
Ein Beitrag des ZDF zum Völkermord in Srebrenica.
Am 30. Jahrestag des Ausbruchs des Bürgerkriegs ist der Konflikt offenbar nicht überwunden. Zumindest kann Bosnien-Herzegowina heute aber auf Rückendeckung aus dem Westen zählen. Die Nato etwa hat Russlands Drohung nachdrücklich beiseite gewischt: «Keine dritte Partei hat das Recht, in so einen Prozess einzugreifen oder ihn zu behindern», bekundete Nato-Sprecherin Oana Lungescu im März 2022.
Und weiter: «Alle Drohungen in dieser Hinsicht sind inakzeptabel. Die Zeit der Einflusssphären ist vorbei. Wir rufen unsere bosnischen Freunde auf, die Vor- und Nachteile [eines Beitritts] abzuwägen und die Meinungen der Bewohner des Landes einzubeziehen.» Das werden die Menschen in Bosnien-Herzegowina sicherlich tun. Die Frage ist, ob Russland das Ergebnis akzeptieren wird.