Putin hat seine Träume zerbombt «Gorbatschows Tod ist ein Symbol für eine Zeitenwende»

Von Andreas Fischer

31.8.2022

Bis zuletzt kämpfte er für demokratische Freiheiten in Russland – nun ist Michail Gorbatschow gestorben. Ein Russland-Kenner erklärt, was der Tod des Sowjet-Reformers für Kreml-Chef Wladimir Putin bedeutet.

Von Andreas Fischer

Er machte den Eisernen Vorhang durchlässig, ermöglichte die deutsche Wiedervereinigung und setzte sich für ein geeintes Europa ein: Der ehemalige sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow ist am Dienstagabend im Alter von 91 Jahren verstorben. Im Westen hoch geschätzt, war «Gorbi» in seiner Heimat umstritten. Der Osteuropa-Experte Frithjof Benjamin Schenk erklärt, welche politischen Fehler Gorbatschow zu Lebzeiten gemacht hat und was sein Tod für die russische Gesellschaft bedeutet.

Zur Person
zVg / Anna Schmidt Photographie

Frithjof Benjamin Schenk ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Basel. Der Russland-Kenner hat für Forschungsaufenthalte unter anderem in St. Petersburg und Moskau gelebt.

Mit Gorbatschow verstummt ein Mahner gegen den Totalitarismus: Wird Wladimir Putin davon profitieren?

Da Michail Gorbatschow in den letzten Jahren in Russland politisch keine grössere Rolle mehr gespielt hat, wird sein Tod vermutlich keinen wahrnehmbaren Effekt auf die aktuelle russische Politik haben – weder einen positiven noch einen negativen.

Welche Bedeutung hat Gorbatschows Tod für die Opposition?

Gorbatschow war keine sichtbare Figur der politischen Opposition. Er war zwar an der «Nowaja Gaseta», der letzten landesweiten regimekritischen Zeitung, beteiligt, hat sich aber innenpolitisch zuletzt nicht mehr zu Wort gemeldet. Ausserdem hat sich Gorbatschow 2014 zustimmend zur Annexion der Krim geäussert.

Putin zerbombt gerade Gorbatschows Lebenstraum von einem geeinten Europa: Welche Symbolik liegt im Zeitpunkt seines Todes?

Es liegt in der Tat eine symbolische Kraft darin. Michail Gorbatschow stand wie kaum ein anderer Politiker für die Epoche der Annäherung zwischen Ost und West, für das Fallen des Eisernen Vorhangs, für offene Grenzen, für die Wiedervereinigung Europas. Darauf hatte man in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren grosse Hoffnungen gesetzt. Diese Zeit der Hoffnung ist heute eindeutig vorbei: Dass Gorbatschow gerade heute stirbt, kann man durchaus als Symbol für eine Zeitenwende sehen. Wobei man dazu sagen muss, dass die Zeit der Hoffnung nicht erst am 24. Februar endete, sondern spätestens 2014, vielleicht sogar noch früher.

Sie sagen, Michail Gorbatschow spielte in Russland keine Rolle mehr: Wie wurde der im Westen hoch geschätzte Politiker in seiner Heimat wahrgenommen?

Es gibt eine grosse Diskrepanz zwischen der Sympathie für Gorbatschow in Europa, vor allem in Deutschland, und der Wahrnehmung in Russland. Dort wird er von der Mehrheit der Bevölkerung als Totengräber der Sowjetunion gesehen. Das liegt allerdings auch darin begründet, dass diese Sichtweise von der heutigen russischen Regierung massiv befeuert wird. Putin stilisiert sich seit Jahren als Retter Russlands, der das Land angeblich aus dem Chaos der 1990er-Jahre herausgeführt habe. In dieser Erzählung wird Gorbatschow – und auch Boris Jelzin – für die Jahre der politischen und wirtschaftlichen Krise verantwortlich gemacht.

Gorbatschow wollte die Sowjetunion erneuern: Warum ist er gescheitert und hat stattdessen sein Imperium gestürzt?

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen hat Gorbatschow mit seiner Politik der Offenheit, der «Glasnost», die ideologischen Fundamente der kommunistischen Diktatur unterminiert. Er hatte nicht verstanden, dass der Erhalt der Sowjetunion mit ihrer Einparteiherrschaft nicht kompatibel ist mit den Idealen von Meinungs- und Pressefreiheit. Er hat letztendlich die Schleusen geöffnet für eine öffentliche politische Debatte, bei der all die Missstände der vorangegangenen Jahrzehnte ans Tageslicht kamen. Dies führte zu einer massiven Delegitimierung des politischen Systems.

Ein zweiter Faktor ist, dass Gorbatschow ein Humanist und daher nicht bereit war, den Erhalt der Sowjetunion mit Waffengewalt zu verteidigen. Anders als die Kommunistische Partei in China, die 1989 Panzer gegen die eigene Bevölkerung einsetzte, war Gorbatschow dazu nicht bereit. Er sagte, dass er den Lauf der Geschichte akzeptiere und er zum Beispiel eine Abspaltung der baltischen Staaten nicht gewaltsam aufhalten wolle. Dabei wurde das Vielvölkerreich nicht zuletzt durch Zwang und die Macht der Armee zusammengehalten.

Allerdings ist die Sowjetunion auch unter Gorbatschow militärisch gegen Unabhängigkeitsbestrebungen vorgegangen, etwa in Aserbaidschan und Litauen …

Das stimmt, es gab einige gewaltsame Zusammenstösse. Die blutigen Konflikte und Kriege zwischen Armenien und Aserbaidschan, im Baltikum oder in Zentralasien können nicht kleingeredet werden.

Wenn man sich aber überlegt, wie aufgeheizt die Stimmung war und wie zahlreich die Sowjettruppen in den Unionsrepubliken stationiert waren, wurde erstaunlich wenig staatliche Gewalt ausgeübt. Ein amerikanischer Kollege sagte einmal, es grenze an ein Wunder, dass es im Zuge der Auflösung der Sowjetunion nicht zu einem gewaltigen Blutbad gekommen sei. Sowjetnostalgiker und und Neo-Imperialisten werfen Gorbatschow heute genau das vor, dass er nicht bereit war, den Staat mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen.

Nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Gorbatschow im August 1991 nutzten neue, nationalistische Kräfte die Labilität des Systems aus und brachten die UdSSR zu Fall. In der russischen Sowjetrepublik war das Präsident Boris Jelzin, der gemeinsam mit den Regierungschefs der Sowjetukraine und von Belarus die Sowjetunion Ende 1991 schliesslich auflöste.

Der verstorbene ehemalige sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow (links) stand wie kaum ein anderer Politiker für die Annäherung zwischen Ost und West. Davon ist Russland unter Wladimir Putin weit entfernt.
Der verstorbene ehemalige sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow (links) stand wie kaum ein anderer Politiker für die Annäherung zwischen Ost und West. Davon ist Russland unter Wladimir Putin weit entfernt.
Keystone