«Der neue Hotspot» Europa rüstet auf – und die Nato sucht Sowjetwaffen für Kiew

Von Philipp Dahm

19.3.2022

Verkehrte Welt: Die Nato müht sich derzeit, alte Waffensysteme aus Sowjetzeiten aufzukaufen. Aber nicht nur die Ukraine hat Bedarf – auch die osteuropäischen Bündnispartner wollen aufrüsten.

Von Philipp Dahm

In Europa geht eine neue Angst vor Russland um. Alleine in dieser Woche wurde in diversen osteuropäischen Staaten die Verteidigungsbereitschaft erhöht.

Am Montag, 14. März, wird bekannt, dass Frankreich vier Jets vom Typ Mirage 2000-5F nach Estland verlegt, um den Luftraum des baltischen Nato-Mitglieds zu schützen. Das Pentagon verkündet am 17. März, zwei F-16 zum selben Zweck nach Kroatien zu schicken – und Grossbritannien teilt am gleichen Tag mit, die Royal Army werde das Flugabwehrsystem Sky Sabre in Polen installieren.

Das Luftabwehrsystem Sky Sabre ist erst seit 2018 in Grossbritannien im Einsatz. Nun soll es Polen schützen.
Das Luftabwehrsystem Sky Sabre ist erst seit 2018 in Grossbritannien im Einsatz. Nun soll es Polen schützen.
Archivbild: British Ministry of Defence

Offensichtlich ist das Sicherheitsbedürfnis stark gestiegen – und damit auch der Wunsch nach ausreichender Bewaffnung. Auf lange Sicht reicht es aber nicht aus, sich von Bündnispartnern beschützen zu lassen. Das heisst, dass nun die Stunde der Rüstungskonzerne schlägt. Was sich dabei gerade abzeichnet: Europa rüstet mit modernem Kriegsgerät auf und schickt älteres Material in die Ukraine.

Diese Taktik lohnt sich für beide Seiten: Kiew bekommt Waffen vor allem aus der Sowjetzeit, mit denen die Soldaten auch umgehen können, während die Nachbarn im Westen diese alten Systeme durch Nato-kompatibles Material ersetzen können. Das ist auch der Grund dafür, dass ausgerechnet das von den USA geführte Bündnis nun fieberhaft nach älteren Kampfsystemen sucht, die aus Russland stammen.

Slowakei bietet S-300 an

Ganz oben auf der Liste steht das Flugabwehrsystem S-300, das 1978 seine Premiere gefeiert hat und seither in grossen Stückzahlen und einigen Varianten gebaut worden ist. Die Raketen mit dem Nato-Namen Sa-10 Grumble sind heute unter anderem noch in den Nato-Ländern Bulgarien, Griechenland und der Slowakei im Einsatz.

S-300-System in Russland: Die Flugabwehrraketen sind erprobt und potent.
S-300-System in Russland: Die Flugabwehrraketen sind erprobt und potent.
Archivbild: Keystone

Griechenland etwa könnte seine Systeme vom Typ S-300 PMU-1 der Ukraine überlassen, schlägt der pensionierte US-Generalleutnant Joseph Keith Kellogg Jr. vor. Athen hat bereits zwei Flugzeugladungen voll mit Kalaschnikow-Sturmgewehren, Munition und Raketenwerfern an Kiew geschickt, nachdem bei der Belagerung von Mariupol auch zehn griechische Staatsangehörige getötet wurden.

Doch der erste Kandidat, um der Ukraine zu helfen, ist die Slowakei: Nachdem Deutschland und die Niederlande angekündigt haben, Flugabwehrsysteme vom Typ Patriot beim Nato-Partner stationieren zu wollen, gibt nun Bratislava grünes Licht für die Lieferung der eigenen S-300-Batterien an Kiew. Mittelfristig will die Slowakei selbst auf das amerikanische Patriotsystem umsteigen.

Kampf um die Lufthoheit

Warum ist die S-300 so gefragt? Die Ukraine kann ihren Luftraum nicht verteidigen: Die eigene Flugabwehr ist seit Kriegsbeginn dezimiert worden. Russische Jets fliegen derzeit geschätzt 200 Einsätze pro Tag, während Kiew noch geschätzt 56 Flugzeuge zur Verfügung hat, die im Durchschnitt pro Tag fünf- bis zehnmal aufsteigen.

So funktioniert die S-300.

Bei Luftkämpfen haben sie den Nachteil, dass der russische Raketenschirm weiter nach Westen verlegt wurde, der die Jäger bedroht. Um russische Bombardements abzuwenden, werden Mittel- und Langstreckenraketen wie jene der S-300 benötigt: Geschulterte Boden-Luft-Raketen wie die amerikanische Stinger können nur gegen Helikopter und tieffliegende Jets eingesetzt werden.

Bei diesen weniger komplexen Waffen ist die Not der Ukrainer kleiner, was auch mit den diversen westlichen Hilfen zusammenhängt, die jüngst beschlossen wurden. Grossbritannien will beispielsweise das potente und tragbare Luftabwehrsystem Starstreak sowie 9000 panzerbrechende Raketen liefern. Die grösste Unterstützung kommt aber aus Washington: 800 Millionen Dollar Militärhilfe sind bewilligt worden.

Bekommt Kiew Amerikas neue «Kamikaze-Drohne»?

Damit sollen 800 Stinger und 2000 Javelin, 1000 NLAW und 6000 AT-4 beschafft werden: Die drei Letztgenannten sind übrigens Panzerabwehrraketen. Ausserdem werden 100 Granatwerfer, 5000 Gewehre, 1000 Pistolen und je 400 Maschinengewehre und Shotguns gekauft. Abgerundet wird das Paket mit je 25'000 Helmen und Schutzwesten sowie Munition – und Drohnen.

Ein deutscher Soldat mit einer Stinger-Rakete visiert bei einer Luftwaffenübung ein Flugzeug an. 
Ein deutscher Soldat mit einer Stinger-Rakete visiert bei einer Luftwaffenübung ein Flugzeug an. 
Keystone

100 von ihnen sind in der Beschaffung eingeplant, und dabei soll offenbar auch ein Gerät verschifft werden, das dem Gegner schweren Schaden zufügen kann: Die Rede ist von der Drohne Switchblade. Dabei handelt es sich genau genommen nicht um eine Drohne, denn ist die Switchblade erst mal losgelassen, kann man sie nicht wieder landen und einsammeln.

Auch die Reichweite und die Zeit in der Luft sind begrenzt, was mit dem eigentlichen Zweck des Systems zusammenhängt: die gezielte Eliminierung einzelner Personen. Bekannt wurde die Switchblade dann auch beim Einsatz gegen Qasem Soleimani: Der iranische General ist im Januar 2020 in Bagdad von einer solchen Drohne getötet worden.

«Europa ist der neue Hotspot»

Die Switchblade ist präzise, tödlich und modern. Deshalb bleibt es abzuwarten, ob das Pentagon das System tatsächlich abgibt und riskiert, dass es Russland in die Hände fällt, sollte mal etwas schiefgehen. Auf der anderen Seite lohnt sich der Einsatz: Die Switchblade 300, die kleinere der beiden Varianten, kostet 6000 Dollar. Zum Vergleich: Eine Boden-Luft-Rakete vom Typ Hellfire kostet 150'000 Dollar.

Dieses Video erklärt, wie die Switchblade funktioniert.

Angesichts der Entwicklungen kann die Schweiz froh sein, sich bereits für die F-35 und das Patriot-Abwehrsystem entschieden zu haben, denn die US-Waffen sind inzwischen gefragter denn je. Auch Deutschland will sowohl den Jet als auch Flugabwehrraketen in den USA bestellen. Polen soll an US-Drohnen vom Typ MQ-9 Reaper interessiert sein, und Länder wie Dänemark oder Schweden stocken ihre Militäretats auf.

«Europa ist der neue Hotspot», erklärt Siemon Wezeman vom Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) der Nachrichtenagentur AFP. Derzeit betrage der Anstieg bei den entsprechenden Etats in Europa rund 19 Prozent. «Wir werden unsere Militärausgaben nicht nur ein bisschen, sondern deutlich erhören. Wir brauchen neue Waffen, und viel wird importiert werden», glaubt Wezeman.