Fragen und AntwortenEröffnet Kiew eine zweite Front auf russischem Gebiet?
Philipp Dahm
27.8.2024
Jetzt auch noch Belgorod: Die ukrainische Armee hat erneut die Grenze zu Russland überquert, melden Militär-Blogger. Hier vier Fragen zur neuen Front – inklusive Antworten, soweit der Nebel des Krieges dies zulässt.
Philipp Dahm
27.08.2024, 17:32
27.08.2024, 17:35
Philipp Dahm
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
Rund 500 Soldaten sollen sich an der Grenze zum russischen Oblast Belgorod Gefechte liefern, melden russische Miltiär-Blogger.
Der Gouverneur von Belgorod bestätigt, dass es Angriffe gibt.
Vier Fragen werden hier – so gut es geht – beantwortet: Ist das alles nur Ablenkung?
Die Meldungen der Miltiär-Blogger sind zunächst widersprüchlich. Sie berichten davon, dass die ukrainischen Streitkräfte Grenzposten attackieren. Der eine soll sich in Nechoteewka, der andere in Schurawlewka und ein dritter vor Schebekino befinden.
Laut dem russischen Telegram-Kanal Mash stehen vor Schebekino 300 gegnerische Soldaten im Einsatz. Beim Grenzort Nechoteewka sollen es 200 sein. Der Telegram-Kanal Shot schreibt dagegen von 60 Männern, die um 8 Uhr in acht gepanzerten Fahrzeugen vorgerückt sind.
Today Ukrainian forces maybe attempting to enter Russia's Belgorod region, adjacent to its Kursk region. Belgorod governor said border checkpoints at Nekhoteyevka and Shebekino are under attack. Belgorod city is only 30km from the border. https://t.co/7N0I0hzx24pic.twitter.com/RLdqSYrWhZ
Der Gouverneur von Belgorod hat die Kämpfe bestätigt: Die Lage sei «schwierig, aber unter Kontrolle», so Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow.
Alles bloss Ablenkung?
Könnte das Ganze auch einfach ein Ablenkungsmanöver sein? Es ist möglich, dass die ukrainische Armee bewaffnete Aufklärung betreibt, um die Stärke des Gegners zu testen. Natürlich ist auch nicht auszuschliessen, dass ein grösserer Angriff vorgetäuscht wird, um die Kräfte und Aufmerksamkeit der russischen Armee zu binden.
Doch es ist auch durchaus denkbar, dass Kiew dauerhaft eine neue Front auf russischem Territorium eröffnet. Für definitive Aussagen ist es in diesem Moment aber noch zu früh. Bleibt die Frage, warum man überhaupt auf die Meldungen der russischen Propaganda vertrauen sollte.
Orcs claim that AFU are breaking into Belgorod at the Sebekino checkpoint I find this information a bit strange because it would mean that the Ukrainians have cleared the area from Vovchansk to the border with occupied Russia. We need additional information to confirm this. pic.twitter.com/b1CWEJMs2t
Weil die ukrainischen Streitkräfte Funkdisziplin einhalten und keine Bilder oder Videos über aktuelle Offensiven innerhalb Russlands auf Social Media verbreiten, sind es die russischen Militär-Blogger, die als einzige über die Vorgänge berichten.
Gibt es Parallelen zur Kursk-Invasion?
Tatsächlich war es auch schon bei der Kursk-Invasion so: Zunächst hatten russische Militär-Blogger über Grenzübertritte geschrieben. Das wurde heute vor genau drei Wochen von ihren westlichen Pendants jedoch nicht wirklich ernst genommen. Schnell hat sich dann herausgestellt, dass Kiew sehr wohl die Grenze überschritten hat.
Ukraine veröffentlicht Video von Einmarsch in Russland
Dieses Video, das die ukrainischen Militärbrigaden am Freitag veröffentlicht haben, soll den ersten Tag des ukrainischen Einmarsches in das russische Gebiet Kursk, an der Grenze zur Ukraine zeigen. Die ukrainischen Truppen hatten am 6. August die Grenze überquert und damit die Führung in Russland überrascht. Seitdem halten sie sich in der Region und haben dort sogar eine Militärkommandantur eingerichtet.
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Auch damals war zunächst von 600 Soldaten die Rede gewesen, dann wurde sie Zahl auf 1000 Gegner nach oben korrigiert. Während die Grenzposten in Kursk kaum Widerstand geleistet haben, ist bis jetzt nicht abzusehen, ob es hinter dem Schlagbaum in Belgorod mehr Widerstand gibt.
Was winkt in Belgorod?
Belgorod hat 340'000 Einwohner*innen, ist das Zentrum des gleichnamigen Oblasts und liegt lediglich 40 Kilometer von der Grenze entfernt. Im Mai und Juni 2023 versuchten Mitglieder der Legion Freiheit Russlands über Schebekino auf die Grossstadt vorzurücken. Ende Juni begann Jewgeni Prigoschin dort seinen Marsch Richtung Moskau.
Belgorod ist ein wichtiges Nachschub-Zentrum im Rücken der russischen Truppen, die im Oblast Charkiw eingefallen sind, von dort aber langsam vertrieben werden. Es ist neben Kursk die grösste Basis für Truppen, die die ukrainische Gegen-Invasion in Kursk bekämpfen sollen. Die Stadt liegt an einer Bahnstrecke und der Autobahn E105, die sie mit Moskau verbindet.
Der Oblast Belgorod ist ein industrielles Zentrum, in dem ein Drittel der Eisenerze Russlands verarbeitet wird. Hier gibt es ausserdem Bauxit und Kreide sowie Zement-Fabriken und chemische Industrie.
Wer überdehnt seine Truppen zuerst?
Sollte es sich bei den Grenz-Scharmützeln in Belgorod wirklich um den Auftakt einer weiteren ukrainischen Offensive handeln, muss man sich fragen, wie lange das gutgeht.
Das trifft auf beide Seiten zu: Wie will der Kreml diesen Brandherd löschen, wenn er schon nicht in der Lage ist, den Gegner in Kursk zurückzudrängen? Zumal Moksau es derzeit auch nicht schafft, die Stellungen in Woltschansk im ukrainischen Charjkiw zu halten, das von Schebekino nur rund zehn Kilometer entfernt ist?
Das gilt aber auch umgekehrt: Warum sollte Kiew in Belgorod eine neue Front aufmachen, wenn weder Charkiw noch der Donbass befreit werden können? Könnte es nicht auch die Ukraine sein, die mehr verschlingt, als sie verdauen kann?
Der Nebel des Krieges ist zu dicht: Das lässt sich jetzt nicht klären. Noch nicht.
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