Schiessereien Die USA stehen unter Schock, mal wieder

Von Andreas Fischer

16.4.2021

Nach jedem Massaker stellen sich die Menschen in den USA dieselbe Frage: Wann werden automatische Waffen endlich verboten?
Nach jedem Massaker stellen sich die Menschen in den USA dieselbe Frage: Wann werden automatische Waffen endlich verboten?
AP Photo/David Zalubowski/KEYSTONE

Die USA bekommen ihr Waffenproblem nicht in den Griff: Erneut werden acht Menschen bei einem Amoklauf erschossen. Massenschiessereien gehören zum Alltag – weil das Land den «Wahnsinn» zulässt.

Von Andreas Fischer

Wieder sterben in den USA viele Menschen durch Schüsse, wieder ist Nation erschüttert: Im US-Bundesstaat Indiana hat ein Bewaffneter in einem Paketzentrum mindestens acht Menschen getötet. Es ist der achte vergleichbare Vorfall mit mindestens vier Toten in vier Wochen. In Atlanta ermordete ein 21-Jähriger Mitte März acht Menschen, die vornehmlich in asiatischen Massagesalons arbeiteten. Ein paar Tage später erschoss ein Mann in einem Supermarkt in Colorado zehn Menschen. Am 1. April starben in einem Bürogebäude in Kalifornien vier Menschen durch gezielte Schüsse. Die Liste liesse sich fortsetzen.

Ein Monat, acht Massenschiessereien, 52 Tote – das sind nur die Vorfälle, die in den Medien hierzulande mehr oder weniger widerhallten. Es macht den Eindruck, als würden sich Massenschiessereien in den USA derzeit häufen. Mit Zahlen belegt werden kann das nicht, die Wirklichkeit ist indes noch blutiger.

Das amerikanische Gun Violence Archive führt für 2021 bis zum 15. April (dem 105. Tag des Jahres) bereits 147 Massenschiessereien auf, bei denen 176 Menschen getötet wurden und 576 verletzt. Allein in Indianapolis war es schon der dritte Zwischenfall dieser Art seit Jahresbeginn. Im Januar wurden fünf Menschen, darunter eine schwangere Frau, erschossen. Im März erschoss ein Mann drei Erwachsene und ein Kind während eines Streits.

Amokläufe schwierig vorherzusagen

Seit Jahren kommt es den Statistiken zufolge in den USA im Durchschnitt zu mehr als einer Massenschiesserei pro Tag: Als Massenschiesserei gelten laut «Congressional Research Service» Taten, bei denen mindestens vier Menschen verletzt oder getötet werden. Eine offizielle Definition gibt es allerdings nicht.

«Um für nationales Aufsehen zu sorgen, müssen die Täter mittlerweile die Grausamkeiten der letzten Aktion übertreffen», stellt Jonathan Metzl fest. Der Professor für Psychiatrie an der Vanderbilt Universität in Nashville, Tennessee, forscht zu den Gründen für Waffengewalt und erläuterte in einem Interview: «Mit Waffen werden Konflikte bewältigt. Alles von zwischenmenschlichen Problemen bis hin zur Unzufriedenheit mit Noten wird damit gelöst.»

Dementsprechend sind die Motive der jüngsten Mordanschläge differenziert: Rassismus, Beziehungstaten, Frust im Job. «Amokläufe sind sehr schwierig vorherzusagen und zu stoppen», sagt Metzl. Allerdings sei «bei den Schiessereien im Alltag ziemlich klar, wie man sie bekämpfen kann: Wir brauchen grundsätzliche Kontrollen.»

Biden hat gegen den «Wahnsinn» keine Chance

Die gibt es in den USA allerdings selten. Zum einen hat jeder der 50 Bundesstaaten eigene Waffengesetze, zum anderen ist die National Rifle Association (NRA) ein mächtiger Gegner allfälliger Verschärfungen von Waffengesetzen. Alle Bemühungen um ein strengeres Waffenrecht sind bisher am Widerstand der Waffenlobby gescheitert. US-Präsident Joe Biden mag zwar einen erneuten Anlauf ankündigen, um die Schusswaffengewalt im Land einzudämmen, dass er damit durchkommt, ist allerdings fraglich.

«Die Schritte – obwohl notwendig und willkommen – rücken auch in den Blickpunkt, wie wenige Optionen ein Präsident hat, ein für die öffentliche Sicherheit und die öffentliche Gesundheit entscheidendes Problem anzugehen», kommentierte die «Los Angeles Times». Tatsache sei, dass ein Präsident im Alleingang nicht viel tun könne, wenn es um die Reglementierung von Waffenbesitz geht: «Die Vorlage dafür wird vom Kongress diktiert. (...) Und es ist beunruhigend, dass sie so schwer zu stemmen sind in einem Kongress, der so sehr dem Mythos verhaftet ist, dass eine bewaffnete Nation eine sicherere Nation sei.»

Psychiater Metzl wird noch deutlicher: «Die USA lassen diesen Wahnsinn zu. Dadurch, dass es immer leichter wird, an Waffen zu kommen, entsteht überhaupt erst diese irrsinnige Waffengewalt.» Knapp 40'000 Menschen sterben in den USA jedes Jahr durch Schusswaffen, wie die Gesundheitsbehörde CDC in ihrer Statistik ausweist, etwa 60 Prozent davon allerdings durch Suizid.

An die Gewalt gewöhnt

«Wir haben uns an die alltägliche Waffengewalt gewöhnt, die in städtischen Gemeinden stattfindet», konstatiert Robyn Thomas im «Time»-Magazin. «Viele Amerikaner denken nicht unbedingt darüber nach», fügt die Direktorin des «Giffords Law Center to Stop Gun Violence» hinzu.

Dabei sei Schusswaffengewalt durchaus ein «Problem der öffentlichen Gesundheit», wie Thomas argumentiert. «Vor fünfzig Jahren starben sehr viele Menschen bei Autounfällen. Daraufhin wurden umfassende Massnahmen ergriffen: Trunkenheit am Steuer wurde verboten, Geschwindigkeitsbegrenzungen eingeführt, Leitplanken in gefährlichen Kurven installiert. Dazu kamen Gurtpflicht, zusammenklappbare Lenksäulen und Airbags.»

Heute gebe es sogar mehr Autos auf der Strasse als je zuvor: «Und doch haben wir die Zahl der Verkehrstoten um 80 Prozent reduziert, weil wir das als ein Problem der öffentlichen Gesundheit betrachtet haben und eine breite Palette von Massnahmen ergriffen haben.» Dieser Ansatz müsse nun auch beim Thema Waffengewalt verfolgt werden: «Wir müssen uns alle Möglichkeiten ansehen, wie wir sie verhindern können.»