Jets bleiben am Boden Die «mysteriöse Abwesenheit» der russischen Luftwaffe

Von Philipp Dahm

2.3.2022

Bisher haben sich Moskaus Flieger zurückgehalten. Ausnahmen wie diese zerstörte Radaranlagen im ukrainischen Mariupol am 24. Februar bestätigen die Regel.
Bisher haben sich Moskaus Flieger zurückgehalten. Ausnahmen wie diese zerstörte Radaranlagen im ukrainischen Mariupol am 24. Februar bestätigen die Regel.
Keystone

Anstatt die Bodenoffensive vorzubereiten oder ukrainische Kampfjets auszuschalten, hält sich die russische Luftwaffe zurück. Dieses Grounding erfolgt aber unfreiwillig – über Gründe kann nur spekuliert werden.

Von Philipp Dahm

Schon vom «Geist von Kiew» gehört? Die Sage geht so: Russland greift an – und ein ukrainischer Mig-29-Pilot wird im Nullkommanix nicht nur zum Helden, sondern innert eines Tages auch zum Ass. So nennt man Flieger, die mindestens fünf Gegner abgeschossen haben.

Er soll seine Maschine von einer Strasse aus gestartet haben, unterfliegt über Kiew das feindliche Radar, und obwohl die Mig-29 schon einige Jahre auf dem Buckel hat, holt der «Geist von Kiew» neben zwei Su-25, einer Su-27 und einer russischen Mig-29 auch zwei Su-35-Jets vom Himmel, die deutlich moderner sind. So schnell wäre seit dem Zweiten Weltkrieg niemand mehr zum Flieger-Ass geworden.

Die Geschichte ist natürlich zu gut, um wahr zu sein. Diese Geschichte der ukrainischen Propaganda will einerseits die Motivation der eigenen Truppe stärken. Andererseits kommt in dieser urbanen Legende auch noch etwas anderes zum Ausdruck: die erstaunlich überschaubare Leistung der russischen Luftwaffe.

So entstehen urbane Legenden: Erst kommt die Fabel des «Geists von Kiew» auf, dann fertigen User als Hommage Videos in Computersimulationen an. Diese werden wiederum von anderen Usern kopiert und als echte Filme verkauft.

Schema F? Nicht mit Moskau

Denn eigentlich laufen moderne Kriege immer nach dem Schema F ab: Wenn eine Seite überlegene Luftstreitkräfte hat, ist deren Einsatz zu Beginn einer Offensive essenziell. Sie greifen zuerst die Flugabwehr-Batterien und die generischen Flugplätze an, um die völlige Luftüberlegenheit zu erreichen und die folgende Bodenoffensive zu decken.

Nicht so in der Ukraine: Die britische Denkfabrik The Royal United Services Institute (Rusi) nannte die Lage nach fünf Kriegstagen den «mysteriösen Fall des Fernbleibens der russischen Luftwaffe»: Moskau hatte zwar am 24. Februar den Feldzug mit einer Salve von Marschflugkörpern begonnen, die sowohl Radaranlagen als auch Boden-Luft-Raketen vom Typ S-300 zum  Ziel hatte.

Ein abgeschossener russischer Kampfhelikopter vom Typ Ka-52 am 24. Februar vor den Toren Kiews.
Ein abgeschossener russischer Kampfhelikopter vom Typ Ka-52 am 24. Februar vor den Toren Kiews.
Keystone

Doch die rund 300 modernen Jets, die Moskau im Kriegsgebiet zusammengezogen hat, sind in den folgenden Tagen in der Regel am Boden geblieben, wundert sich Rusi. Die Folge: Ukrainische Flugzeuge können nach wie vor aufsteigen, im Tiefflug über die Städte jagen und russische Luft- und Bodentruppen bedrohen.

Keine Jets in der Luft – mehr Helikopter am Boden

Und je weniger Flugzeuge in der Luft sind, desto unbestrafter kann Kiews Armee die eigene Luftabwehr wie etwa tragbare Stinger-Raketen dazu benutzen, um russische Helikopter abzuschiessen: Die bisherigen Luftlande-Offensiven Moskaus waren augenscheinlich mit empfindlichen Verlusten verbunden 

Und Bodenstreitkräfte müssen sich mit Attacken ukrainischer Drohnen auseinandersetzen: Die türkische Bayraktar TB-2 leistet Kiew gute Dienste, obwohl es theoretisch ein Leichtes wäre, solche Drohnenflüge zu unterbinden.

Das Rusi hat mehrere Erklärungsansätze für die russische Passivität. Die mangelhafte Koordination der eigenen Luftabwehr und Luftwaffe könnte mit dem Fehlen potenter Awacs-Flugzeuge zu tun haben: Diese fliegenden Radarschüsseln bilden die Basis dafür, die Lage im Luftraum zu erkennen und entsprechend zu reagieren.

Zu wenig Präzisionswaffen

Ausserdem fehlt Moskau Munition, weiss Rusi: Der schmale Bestand von Präzisionswaffen sei auch durch den Syrien-Einsatz so gut wie aufgebraucht. Mit dem Einsatz ungelenkter Bomben und Raketen seien auch deutlich höhere zivile Verluste zu erwarten, was den Einsatz der Luftwaffe zu einer politischen Entscheidung mache. Auch bei der Zielerfassung soll es hapern, schreibt der Think Tank.

Dennoch könnten die moderneren Jets um die Luftüberlegenheit kämpfen: Unter den 300 Flugzeugen befinden sich 80 Su-35S- und 110 Su-30SM- Jets, die mühelos Gegner aus der Luft holen könnten. Rusi spekuliert, die eigene Flugabwehr könnte das Problem sein: Demnach seien Fälle von Beschuss durch eigene Kräfte keine Seltenheit, weil die Freund-Feind-Erkennung im ukrainischen Luftraum nicht gut funktioniere.

Grounding: Die Su-30SM ist ein Mehrzweck-Jet, die Su-35S ein Luftüberlegenheitsjäger. Hier ist ein Exemplar Ende Januar beim Manöver in Belarus zu sehen.
Grounding: Die Su-30SM ist ein Mehrzweck-Jet, die Su-35S ein Luftüberlegenheitsjäger. Hier ist ein Exemplar Ende Januar beim Manöver in Belarus zu sehen.
EPA

Zu guter Letzt wird angeführt, dass russische Piloten im Vergleich mit jenen westlicher Länder wenig Flugstunden auf dem Buckel haben. Das fehlende Training könnte die Führung dazu bewegt haben, die eigenen Jets zu grounden, um sich keine Blösse zu geben.

Doch was nicht ist, kann noch kommen: Es ist durchaus denkbar, dass der Kreml seine Taktik ändert, wenn die Grossoffensive auf Kiew beginnen sollte. Dann könnten die ungelenkten Bomben den Bodentruppen den Weg in die Hauptstadt ebnen – im leider wahrsten Sinne des Wortes.