Unruhen in Weissrussland «Die Gewalt muss aufhören – alles andere kommt später»

Von Julia Käser und Gil Bieler

25.8.2020

Bizarrer Auftritt: Der weissrussische Präsident Alexander Lukaschenko trat am Sonntag mit einem Maschinengewehr vor die Kameras.
Bizarrer Auftritt: Der weissrussische Präsident Alexander Lukaschenko trat am Sonntag mit einem Maschinengewehr vor die Kameras.
Bild: State TV and Radio Company of Belarus via AP

Nicht ein politisches Erwachen habe die Massen in Belarus mobilisiert, sondern Wut über die Polizeigewalt – das sagt eine in der Schweiz lebende Weissrussin. Laut einem Experten ist Lukaschenko nicht mehr derselbe wie vor der Wahl.

Die Opposition will ihre Streiks und Proteste weiterführen, der Machthaber Alexander Lukaschenko droht mit dem Militär: Auch über zwei Wochen nach den Präsidentschaftswahlen kommt Weissrussland nicht zur Ruhe. 

Die heftigen Nachwehen des Urnengangs vom 9. August haben sich tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt – und treiben mittlerweile auch viele Weissrussen auf die Strasse, die bisher mit Lukaschenko sympathisiert hatten. Das beobachtet Swetlana, eine in der Schweiz wohnhafte Weissrussin, in ihrem Freundes- und Verwandtenkreis in ihrer alten Heimat.

Sie selbst war während der Wahlen ebenfalls im Land. «Die Gewalt, mit der die Staatsmacht gegen die Demonstranten vorgegangen ist, das war einfach zu viel», sagt sie im Gespräch mit «Bluewin» noch hörbar aufgewühlt.

In den Tagen nach der Wahl waren die Sicherheitskräfte mit grosser Brutalität gegen Demonstranten vorgegangen. Mindestens drei Personen starben, Hunderte wurden vorübergehend inhaftiert. Viele berichteten nach ihrer Freilassung von schweren Misshandlungen, die ihnen angetan worden seien. «Für die Weissrussen übersteigt diese Gewalt jegliche Vorstellungskraft, sie können das nicht akzeptieren», sagt Swetlana.

«Die Gewalt muss aufhören, alles andere kommt später»

Es sei diese Wut, die die Menschen auf die Strasse treibe. Eine einheitliche politische Haltung erkennt Swetlana in der Bewegung dagegen nicht: Ob das Land mehr Nähe zur EU oder zu Russland brauche, das sei zweitrangig. «Für sie steht nur fest, dass die Gewalt aufhören und Lukaschenko weg muss. Alles andere kommt später.»

Die Proteste in Belarus halten an. Immer wieder versammeln sich Tausende auf der Strasse, um gegen das Regime zu demonstrieren. 
Die Proteste in Belarus halten an. Immer wieder versammeln sich Tausende auf der Strasse, um gegen das Regime zu demonstrieren. 
Bild: Keystone

Dass sich das Regime seit den vergangenen Wahlen erbarmungslos zeigt, stellt auch Benno Zogg vom Center for Security Studies (CSS) der ETH Zurich fest. Er sagt: «Es muss zwischen Lukaschenko vor und nach diesen Wahlen unterschieden werden.» Von einer Diktatur will der Weissrussland-Experte noch nicht sprechen. Es werde sich erst zeigen, ob die momentane Repression und Zensur anhalten würden. 

Klar sei: Vor dem 9. August habe sich Lukaschenko eindeutig als Autokrat, aber nicht unbedingt als Diktator gezeigt. Laut Zogg hätten viele Belarussinnen und Belarussen die Bezeichnung «Diktatur» auch abgelehnt. «Die Menschen waren in ihrem Alltag wenigen Einschränken ausgesetzt und konnten beispielsweise frei reisen und Zeitungen kaufen, die Regierungspolitik kritisiert haben.»

Lukaschenko habe das Image des Landesvaters zu pflegen versucht, dessen Politik oft Zustimmung fand. Doch die politischen Freiheiten seien schon immer stark eingeschränkt gewesen, erklärt Zogg. «Die Fäden der politischen Macht liefen bei Lukaschenko zusammen. Kritik an seiner Person ist tabu.» Das habe die Meinungsfreiheit stark eingeschränkt und Eigenständigkeit sowie Innovationsgeist gehemmt.

Lachen über den Kalaschnikow-Präsidenten

Mittlerweile habe Lukaschenko die Sympathie eines grossen Teils der Bevölkerung dauerhaft verspielt, ist sich Zogg sicher. Doch nach wie vor bleibe abzusehen, ob der Druck der Strasse wirkliche politische Veränderungen oder einen Bruch innerhalb der politischen Elite herbeiführen könne.

Die Gesellschaft hätten die jüngsten Unruhen aber nachhaltig verändert, so der Experte: «Es führt kein Weg zurück. Die Belarussinnen und Belarussen sind politisiert. Sie werden nie mehr apathisch ein Lukaschenko-Regime stützen können, das ihre Forderungen völlig missachtet und jeglichen Dialog verweigert.»

Auch Swetlana sagt: «Proteste gegen Lukaschenko gab es schon früher. Doch dieses Mal beteiligen sich wesentlich mehr junge Menschen daran.» Dass zwei Generationen so geschlossen demonstrieren gehen, habe es noch nie gegeben.

Mit ihren Verwandten und Bekannten in Minsk hält Swetlana, zurück in der Schweiz, über Messenger-Apps Kontakt. Dabei werde viel über den Langzeitherrscher gespottet, sagt sie. Über Lukaschenkos Auftritt mit Kalaschnikow-Gewehr etwa könne man nur den Kopf schütteln.

Sie findet es bezeichnend, dass die Sicherheitskräfte neben dem Präsidentenpalast auch ein Kriegsmuseum rigoros abgeriegelt hätten: Die Zeit von Lukaschenko sei für die Mehrheit der Bevölkerung vorbei. Doch sei er noch lange nicht aus dem Amt vertrieben: «Es ist ein heikler Moment, die Proteste müssen weitergehen.»

Sind EU-Sanktionen zielführend? 

Derweil sorgen die Unruhen und Polizeigewalt in Weissrussland auch international für Aufsehen. So hat die EU vor wenigen Tagen neue Sanktionen gegen Unterstützer von Lukaschenko auf den Weg gebracht. Damit will man den Druck auf Belarus deutlich erhöhen. 

Der deutsche Aussenminister Heiko Maas erklärte zum Auftakt dieser Beratungen, es gehe darum, ganz gezielt einzelne Personen zu sanktionieren. Gemäss Zogg sollen durch diese gezielten Sanktionen – etwa gegen Vertreter der Regierung, der Sicherheitskräfte, einige Geschäftsleute oder gegen staatstreue Journalisten – breitere Auswirkungen auf die Bevölkerung vermieden werden. 

Auch habe die EU Angst davor, dass Massnahmen oder harsche Sanktionen Belarus noch stärker in die Arme Russlands trieben. Zogg: «Wenn die EU sämtliche Kontakte, Darlehen oder Investitionen zu Belarus kappen würde, blieben dem Land nur noch Russland oder China.» Das wiederum liefe der Stärkung der belarussischen Unabhängigkeit und Wirtschaft zuwider. Der Kreml selbst wolle sich indes nicht offen einmischen. 

Jüngst intensivierte die Schweiz ihre Beziehungen zu Belarus

Und was ist mit der Schweiz? Immerhin hat diese zwischen 2006 und 2016 vergangene EU-Sanktionen gegen Belarus mitgetragen. In letzter Zeit aber kam es zur langsamen Annäherung. So hat die Regierung erst zu Beginn des Jahres angekündigt, die Beziehungen mit Belarus zu vertiefen. Gleichzeitig wurde die Schweizer Vertretung in Minsk zu einer Botschaft aufgewertet. 

Zogg sagt, die Annäherung habe zögerlich stattgefunden. «Man war sich der Missachtung von Menschenrechten und politischen Freiheiten im Land immer bewusst.» Die Schweiz habe sich wohl – wie viele andere europäische Länder auch – erhofft, mit kleinen pragmatischen Schritten die Unabhängigkeit des Landes zu stärken.

Das Schweizer Aussendepartement habe sich über die jüngsten Ereignisse nun aber betroffen gezeigt und die Regierungspolitik kritisiert. Zogg geht deshalb davon aus, dass die Schweiz Ende Monat prüfen werde, ob sie sich den EU-Sanktionen nicht erneut anschliessen will. Zu diesem Zeitpunkt sollen die Details der EU-Sanktionen bekannt werden.

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