Taliban erobern Afghanistan zurückDer längste Krieg der USA
Ellen Knickmeyer, AP/tsh
16.8.2021
Zehntausende Tote, Billionen an Kriegsschulden, und 20 Jahre später ergreifen die Taliban wieder die Macht: Die Bilanz des US-Einsatzes in Afghanistan fällt düster aus.
Ellen Knickmeyer, AP/tsh
16.08.2021, 12:20
16.08.2021, 15:29
Ellen Knickmeyer, AP/tsh
Als er an Weihnachten 2001 nach Afghanistan flog, sei er euphorisch gewesen, erinnert sich William Bee. Die USA starteten wenige Monate nach dem Anschlag auf das World Trade Center ihre Vergeltungsoffensive gegen das Terrornetzwerk al-Kaida. Der damals 19-jährige Bee war unter den ersten Marineinfanteristen, die afghanischen Boden betraten. In den zehn Jahren darauf liessen drei weitere Einsätze in Amerikas längstem Krieg seine anfängliche Begeisterung schwinden.
Für Bee kam die Ernüchterung in einer Nacht in der afghanischen Provinz Helmand im Jahr 2008. Damals hielt er die Hand eines US-Heckenschützen, der gerade einen Kopfschuss erlitten hatte. Ein Arzt nahm bei dem Mann einen Luftröhrenschnitt vor, um ihn künstlich beatmen zu können. In diesem Moment während seiner vierten und letzten Stationierung im Land habe er nur noch gedacht: «Ich will nur meine Leute zurückbringen.» «Das ist das einzige, was zählt. Ich will sie nach Hause bringen,» erinnert sich Bee heute.
Nun, da US-Präsident Joe Biden den US-Kampfeinsatz in Afghanistan beendet, fragen sich Amerikaner wie Afghanen, ob der Krieg die Verluste wert war: Mehr als 3000 US- und andere Nato-Soldaten sowie Zehntausende Afghanen wurden getötet, für die Schulden in Billionenhöhe werden noch Generationen von Amerikanern zahlen müssen. Und nach einem Eroberungsfeldzug in schwindelerregendem Tempo fällt Afghanistan wieder unter die Herrschaft der militant-islamistischen Taliban – so wie die USA es vor fast 20 Jahren vorgefunden hatten.
Erfolgreicher Auftakt
Die ersten Kriegsjahre gelten gemeinhin als erfolgreich: Die USA konnten die al-Kaida unter Terrorchef Osama bin Laden zerschlagen und die Taliban-Regierung, die dem Terrornetzwerk Zuflucht gewährt hatten, stürzen. Der Erfolg sei offenkundig, sagt Douglas Lute, der unter den US-Präsidenten George W. Bush und Barack Obama für die Koordination des Afghanistan-Einsatzes zuständig war. Denn die al-Kaida habe seit 2005 keinen grösseren Anschlag gegen den Westen mehr verüben können.
Doch dann folgte die aufreibende zweite Kriegsphase. Die Angst in den USA vor einer Rückkehr der Taliban im Fall eines möglichen Truppenabzugs führte dazu, dass Soldaten wie Bee immer wieder an den Hindukusch geschickt wurden. Die Einsätze wurden gefährlicher, die Zahl der Toten und Verletzten stieg. Lute und andere argumentieren jedoch, dass die zweite Hälfte des Kriegs eine Schonfrist gebracht habe – Zeit, in der die afghanische Regierung, die Sicherheitskräfte und die Zivilgesellschaft für eine Eigenständigkeit gestärkt werden konnten.
Zudem stieg unter der westlichen Besatzung in mancherlei Hinsicht die Lebensqualität, auch wenn die ins Land gebrachten US-Millionen die Korruption nährten. Die Kindersterblichkeit halbierte sich, und 2019 verfügten fast alle Afghanen über Elektrizität, während es 2005 noch weniger als ein Viertel waren. Frauen erhielten Rechte und Möglichkeiten, die ihnen von den fundamentalistischen Taliban strikt verweigert worden waren. Heute kann mehr als ein Drittel aller Mädchen im Jugendalter lesen und schreiben.
«Die Mission ist nicht erfüllt»
Doch nun droht die lange zweite Phase des Kriegs mit einem totalen Misserfolg zu enden. Nach dem rasenden Vormarsch der Taliban in den vergangenen Wochen fiel auch die Hauptstadt Kabul, wo die meisten Afghaninnen und Afghanen leben. «Die Mission ist nicht erfüllt», sagte Biden im Juli auf die Frage eines Journalisten. Er korrigierte sich aber schnell und verwies auf die Erfolge in den ersten Kriegsjahren: «Die Mission wurde insofern erfüllt, dass wir Osama bin Laden bekommen haben, und dass der Terrorismus nicht von diesem Teil der Welt ausgeht.»
Der verlustreichere Teil waren jedoch die ergebnislosen Kriegsjahre. Die Zahl der getöteten Soldaten pro Jahr erreichte etwa auf der Mitte des Einsatzes ein Hoch. Insgesamt wurden laut Pentagon 2448 US-Soldaten, 1144 Kräfte der Nato und aus verbündeten Staaten getötet sowie mehr als 47'000 afghanische Zivilpersonen und mindestens 66'000 heimische Soldaten und Polizisten.