Er darf alles, sie nichtDer Impfgraben verläuft mitten durch unsere Familie
Von Andreas Fischer
6.5.2021
In Deutschland sollen Geimpfte umfassende Freiheiten zurückbekommen. In der Familie des Autors sorgt das für Diskussionen – weil für die eine Hälfte der Erwachsenen noch lange kein Impfstoff in Sicht ist.
Von Andreas Fischer
06.05.2021, 14:58
06.05.2021, 15:10
Andreas Fischer, Leipzig
Die allgemeine Stimmung scheint sich aufzuhellen in Deutschland. Die harten Lockdown-Massnahmen und die Impfkampagne zeigen Wirkung. Bevorstehende Lockerungen machen die Menschen – nun ja – lockerer. Vor allem die geimpften.
«Wir winken euch dann schon mal aus dem Restaurant zu», sagte eine Nachbarin vorgestern fröhlich. Meiner Partnerin kamen die Tränen. Anders als die bereits geimpfte Nachbarin hat sie noch nicht einmal einen Impftermin in Aussicht.
Auch ich fühlte mich schlecht: Der Impfgraben verläuft nämlich mitten durch unsere Familie. Ich habe nächste Woche meinen ersten Termin, Anfang Juni soll ich vollständig geimpft sein. Als Journalist gehöre ich zur kritischen Infrastruktur.
Grundrechte und die praktischen Fragen
In Deutschland wird seit einigen Wochen hitzig darüber diskutiert, welche Lockerungen für Geimpfte erlaubt sein werden. Im Kern geht es um die Frage, ob eine Ungleichbehandlung gerecht ist. Dabei ist häufig von Privilegien für Geimpfte die Rede, was allerdings nicht ganz richtig ist: Wer Antikörper im Blut hat, bekommt seine Grundrechte zurück. Das sind keine Privilegien, sondern normale Freiheiten – auf die Ungeimpfte verzichten müssen.
Auch wir haben zuletzt häufiger über dieses Thema geredet: Ich darf bald wieder alles, meine Partnerin aber noch nicht. Neid spielte dabei nie eine Rolle, eher die Überlegung, ob Grundrechte nicht für alle gleich gelten sollten, damit sie auch wirklich Grundrechte sind. Ganz abgesehen von praktischen Fragen in unserer Familie.
Am Montag jedenfalls hat die deutsche Bundesregierung beschlossen, dass es mit den Freiheiten für Geimpfte ganz schnell gehen soll. «Es wird in Zukunft so sein, dass geimpfte und genesene Menschen keine Einschränkungen mehr haben werden bei Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen», kündigte Justizministerin Christine Lambrecht an. Schon ab Samstag könnten die Lockerungen in Kraft treten.
Ich darf, sie nicht
Ich dürfte – nach meiner Impfung – dann wieder mit Kumpels um die Häuser ziehen. Meine Partnerin müsste zu Hause bleiben.
Und ich dürfte mit den Kindern in die Ferien fahren, ohne Beschränkungen, ohne nachfolgende Quarantänepflicht. Meine Partnerin müsste in Quarantäne. Oder zu Hause bleiben.
Als Vater zweier Töchter ziehe ich zwar ohnehin nicht mehr häufig um die Häuser, und natürlich werden wir nur als Familie in die Ferien fahren – doch die Unterschiede zwischen meiner Freundin und mir fühlen sich komisch an. Und sie machen uns hilflos.
Dieses Gefühl wird kaum akzeptiert, weil es verwechselt wird. «Überall bekomme ich gesagt oder zu lesen: Es steht dir nicht zu, neidisch zu sein», ärgert sich meine Freundin. Jedes Gespräch wird mit dem Neid-Argument abgewürgt. Dabei ist sie gar nicht neidisch, im Gegenteil, sie freut sich über jede Impfung, die uns allen der Normalität ein Stück näher bringt.
Empathie wäre auch okay
Was wirklich stört, ist, dass der Solidaritätsgedanke verschwunden ist: Haben sich Anfang der Pandemie viele Menschen persönlich zurückgenommen, um die Schwachen zu schützen, sind jetzt viele, die es geschafft haben, sich zweimal pieksen zu lassen, nur noch auf sich selbst bedacht. Die anderen? Die sind egal.
«Wir winken euch dann schon mal aus dem Restaurant zu» – Wer will der Nachbarin die Freude verdenken? Sie hat es auch nicht böse gemeint, auf keinen Fall. Aber sie hat eben auch nicht bedacht, was sie mit diesem Spruch bei den Menschen auslöst, die sich gedulden (müssen), die ihre Freiheiten (noch) nicht wiederbekommen – und die dabei alle Regeln beachten, um die Verbreitung des Virus aufzuhalten. Meine Freundin wünscht sich einfach mehr Empathie.