Wie vor einem Jahr: Minsk und Moskau wollen an der Grenze zur Ukraine wieder Militärmanöver abhalten. Ein erneuter russischer Sturm auf Kiew scheint denkbar – ob Belarus mitmachen würde, ist aber eine andere Frage.
Von Philipp Dahm
10.01.2023, 09:40
Philipp Dahm
Es ist der 10. Februar 2022, als Russland sein Manöver mit Belarus mit geschätzt 30'000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine beginnt. Es dauert bis zum 20. Februar, doch die russischen Truppen ziehen nicht ab. Vier Tage später überfällt Wladimir Putin die Ukraine.
Knapp elf Monate später wollen Minsk und Moskau ihre Streitkräfte wieder gemeinsam trainieren lassen. «Vom 16. Januar bis 1. Februar 2023 finden kollektive lufttaktische Übungen der Streitkräfte von Belarus und Russland statt», kündigt das weissrussische Verteidigungsministerium am 8. Januar auf Telegram an.
Another echelon with #Russian military arrived to #Belarus today. Over the past 2 days, 1600-1800 Russian soldiers have been transferred to Vitebsk. Lukashenko fulfilling Putin's will increases threat of aggression north against #Ukraine.#PanishPutinsPuppetpic.twitter.com/unnveFCXq8
Zwischen 1400 und 1600 Soldaten sollen noch am selben Tag im weissrussischen Wizebsk eingetroffen sein. Koordiniert werde das Manöver von einer gemeinsamen, 9000 Mann starken Einsatzgruppe, die im Herbst gebildet worden ist und offiziell den Schutz der Aussengrenzen der russisch-belarussischen Union gewährleisten soll.
Doch entgegen der Ankündigung wird es wohl nicht bei einem Manöver von Luftstreitkräften bleiben: Laut «Guardian» sind bereits weitere Soldaten, Waffen und Spezialausrüstung in die Übung integriert worden. Der Korrespondent der deutschen «Welt» spricht davon, dass «fast schon massenweise Kriegstechnik nach Belarus verlegt» werde.
Opposition: Fast alles bereit für eine Mobilisierung
Nachdem sowohl Wladimir Putin als auch sein Verteidigungsminister Sergei Schoigu im Dezember Minsk besucht haben, ist nun das Misstrauen gross: Greift Belarus doch noch in den Krieg ein? Alexander Lukaschenko gibt sich einerseits lammfromm: Am orthodoxen Weihnachtsfest am 7. Januar versichert der weissrussische Präsident, er werde «alles tun», damit «unser Belarus in Frieden und Einklang leben» könne.
Doch andererseits sei im Land fast alles bereit für eine Mobilisierung, warnt in Warschau Pawel Latuschka: «Die Zählung aller Wehrpflichtigen in Belarus ist praktisch abgeschlossen» erklärt der der oppositionelle Weissrusse dem «RedaktionsNetzwerk Deutschland». Beamte des Innenministeriums in Minsk hätten ihre Pässe abgeben müssen, damit sie das Land nicht verlassen könnten.
Lukaschenko versuche, seine Armee im Frühjahr von 65'000 auf 100'000 aufzustocken, so Latuschka. Russland wolle bis zu 120'000 Mann in Belarus aufstellen. Der ukrainische Geheimdienst rechnet mit deutlich weniger Angreifern: 30'000 Soldaten auf Russland und Belarus könnten demnach eine neue Front eröffnen.
Lukaschenko braucht seine Kräfte
«Zu Beginn des Krieges [gegen die Ukraine] hatten wir mehrere Bataillone, die kampfbereit waren. Es waren knapp 10'000», sagt die Weissrussin Hanna Liubakova von der Denkfabrik Atlantic Council zu «Foreign Policy». «Das ist offensichtlich nicht genug, um der Ukraine zu schaden, aber für Lukaschenko wäre es ein Problem, sie zu verlieren.»
Der Präsident stützt seine Macht auf seinen Sicherheitsapparat – und müsste befürchten, Im Falle eines Kriegseintrittes seinen eigenen Niedergang einzuleiten. Dazu passt, dass auch der belarussische Inlandsgeheimdienst KGB angekündigt hat, im Januar in den Regionen Minsk und Wizebsk Übungen durchzuführen, wobei auch Militär zum Einsatz kommen könnte. Es geht angeblich darum, den Umgang mit Terror-Attacken zu üben.
Auch wenn Satellitenbilder zeigen, wie neue Strassen in der Grenzregion gebaut werden, hält Liubakova einen Kriegseintritt von Minsk für möglich, aber unwahrscheinlich. Und tatsächlich würde eine Attacke auf die Ukraine von Norden her heute anders verlaufen als im Februar 2022. Damals sind die russischen Truppen einfach durchgerauscht auf ihrem Weg nach Kiew, wo sie sich letztlich festgefahren haben, bevor sie abziehen mussten.
Eine andere Grenze als noch 2022
Heute versperren neue Grenzzäune, Schützengräben und Minenfelder den Weg in die Ukraine. Die Einheiten der ukrainischen Territorialverteidigung haben sich in den letzten Monaten auf eine Invasion vorbereitet: Ein Vorstoss dürfte Russland und seinen etwaigen Verbündeten teuer zu stehen kommen.
Dennoch warnt der ukrainische Geheimdienst, Moskau stehe vor der erneuten Mobilisierung von 500'000 weiteren Soldaten. Angeblich erhält Minsk dieser Tage jede Menge Ausrüstung aus dem russischen Arsenal. Und der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow hat schon Mitte Dezember gesagt, er rechne mit einem erneuten Vorstoss auf Kiew im Februar.
Wenn es kalt wird und das Sumpfgebiet zwischen Belarus und der Ukraine gefroren ist, wäre ein erneuter Angriff aus dem Norden gut denkbar. Russlands Präsident Wladimir Putin braucht dringend Erfolge, die sich im Donbass derzeit einfach nicht einstellen wollen. Ganz nach dem Motto: Neue Front, neues Glück.
Ob Belarus da aber mitmachen würde, muss bezweifelt werden – weil Lukaschenko als Diktator dafür nicht fest genug im Sattel sitzt und sein Militär an der Heimatfront braucht. «Unsere Leute wollen nicht gegen die Ukrainer kämpfen», betont Pawel Latuschka. «Sie sehen gar keinen Grund in diesem Krieg und wollen nicht für Putin sterben.»