Lagebild Ukraine Darum hat Selenskyj gerade alle Trümpfe in der Hand

Von Philipp Dahm

28.8.2023

Haben ukrainische Kräfte die russische Hauptverteidigung durchbrochen?

Haben ukrainische Kräfte die russische Hauptverteidigung durchbrochen?

Haben ukrainische Kräfte die russische Hauptverteidigung durchbrochen, wie es Ende August viele Medien berichtet haben? Dem ist nicht so, doch immerhin hat Kiews Armee diese erreicht. Was das zu bedeuten hat und wie es weitergeht, erfährst du hier.

28.08.2023

Die ukrainischen Streitkräfte schicken sich an, nach Robotyne den nächsten Erfolg in dem Gebiet zu erstreiten. Russland hingegen muss viele Truppen hin- und herschieben, um Kiews Druck standzuhalten.

Von Philipp Dahm

Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen

  • Russland muss Truppen von Robotyne an den Dnjepr und von Klischtschijwka nach Robotyne verschieben, damit die Gegenseite an der Front nicht durchbrechen kann.
  • Der Kreml hat angeblich seine letzten guten Reserveeinheiten aktiviert.
  • Nach Robotyne will Kiew Nowoprokopiwka erobern und ist östlich des Dorfes 4 Kilometer vorgerückt.
  • Ein Minenfeld konnte umgangen werden, weil die Minen sich im Sommerwetter aufheizen und mit Nachtsichtgeräten sichtbar sind.
  • Die Hauptverteidigungslinie der Russen ist zwar erreicht, aber nicht durchbrochen worden.
  • Eine US-Denkfabrik attestiert Kiew «substanzielle Fortschritte».

Derzeit lässt sich in der Ukraine gut beobachten, wie die Ereignisse an den verschiedenen Frontabschnitten zusammenhängen. Das fängt ganz im Westen am Dnjepr an, wo ukrainische Spezialkräfte am linken, östlichen Ufer zwei Brückenköpfe errichtet haben.

Einen davon – jenen bei Kosatschi Laheri – konnte die russische Armee räumen, doch dabei hat sie hohe Verluste erlitten, weil die Gegenseite die Truppen, die dafür herangekarrt wurden, mit Artillerie und Drohnen unter Beschuss genommen hat.

Diese Kräfte sind vom Oblast Saporischschja nach Cherson abgezogen worden. Und in Saporischschja haben sie gefehlt, als die ukrainischen Streitkräfte Robotyne einnehmen konnten und weiter vorgerückt sind. Bei der Eroberung kamen auch diverse westliche Waffen zum Einsatz.

Dass es bei den schweren Gefechten um Robotyne auch Material-Verluste gegeben hat, liegt auf der Hand: Die Ausrüstung aus dem Westen ist nicht unzerstörbar. Doch sie hat wenigstens den Vorteil, dass die Besatzungen die Konfrontationen dank der besseren Panzerung in der Regel überleben. 

Nach der Befreiung von Robotyne nähern sich Kiews Kräfte der russischen Hauptverteidigungslinie an. Dabei bewegen sie sich nicht nur Richtung Süden zur nächsten Siedlung, die Nowoprokopiwka heisst, sondern auch nach Westen hin zu Kopani und gen Osten Richtung Werbowe, um nicht von den Flanken attackiert werden zu können. Richtung Werbowe wurde die Hauptverteidigungslinie der Russen zuerst erreicht.

Genau zwischen Robotyne und Nowoprokopiwka liegen Schützengräben (rote Dreiecke). Die ukrainische Armee ist östlich davon vorgerückt. Das tiefer gelegene Gebiet ist taktisch nur dann ein Nachteil, wenn die Gegenseite die Umgehung rechtzeitig bemerkt. Das Minenfeld (rote Kreise) konnten Kiews Kräfte schneller passieren, als es den Russen lieb war.
Genau zwischen Robotyne und Nowoprokopiwka liegen Schützengräben (rote Dreiecke). Die ukrainische Armee ist östlich davon vorgerückt. Das tiefer gelegene Gebiet ist taktisch nur dann ein Nachteil, wenn die Gegenseite die Umgehung rechtzeitig bemerkt. Das Minenfeld (rote Kreise) konnten Kiews Kräfte schneller passieren, als es den Russen lieb war.
Bild: YouTube/Reporting from Ukraine

Weil Russen auf dem direkten Weg zwischen Robotyne und dem südlich davon gelegenen Nowoprokopiwka Schützengräben angelegt haben, hat Kiews Armee einen Trick wiederholt, der schon bei der Einnahme von Robotyne funktioniert hat: Sie umgeht diese Gräben im Osten in tiefer gelegenen Gebiet, wobei die Gegenseite darauf gesetzt haben dürfte, dass die dortigen Minenfelder sie stoppt.

Minenräumung im Nachtsichtgerät: Die kleinen Punkte sind samt und sonders Minen, die der Sommer aufgeheizt und sichtbar gemacht hat.
Minenräumung im Nachtsichtgerät: Die kleinen Punkte sind samt und sonders Minen, die der Sommer aufgeheizt und sichtbar gemacht hat.
Bild: YouTube/Reporting from Ukraine

Weil aber in der Ukraine weiter Temperaturen von über 30 Grad erreicht werden, können ukrainische Pioniere diese Minen sehen: Das Metall heizt sich bei dem Wetter mehr auf als die Umgehung. Mit Nachtsichtgeräten werden die Sprengfallen klar sichtbar, erklärt Reporting from Ukraine.

Weil die Ukrainer sich schnell einen Weg durch das Minenfeld bahnen konnten, sind sie östlich von Robotyne und Nowoprokopiwka vier Kilometer vorgerückt, haben den östlichen Teil der letztgenannten Siedlung angegriffen und auch an dieser Stelle die Hauptverteidigungslinie erreicht. Wenn sie in diese einbricht, kann sie den Schützengraben nicht nur von vorne, sondern auch von der Seite und von hinten attackieren.

Hinter Nowoprokopiwka könnten die Ukraine demnächst die Hauptverteidigungslinie der Russen (rote Dreiecke) knacken.
Hinter Nowoprokopiwka könnten die Ukraine demnächst die Hauptverteidigungslinie der Russen (rote Dreiecke) knacken.
Bild: YouTube/Reporting from Ukraine

Rund 75 Kilometer nordöstlich dieses Schauplatzes liegt Urozhaine, das am 16. August befreit worden ist. Seither haben die ukrainischen Truppen die Front verbreitert – auch hier ist der Grund, dass die Flanken gesichert werden sollen. Hier dürften die nächsten Ziele die verbliebenen russischen Stellungen im Westen in Pryjutne und im Osten in Novodonetske sein.

Im Urozhaine-Frontabschnitt dürften erst russische Stellungen in Osten bei Pryjutne und im Westen bei Novodonetske fallen, bevor Staromlyniwka am Fluss Mokri Jaly attackiert wird.
Im Urozhaine-Frontabschnitt dürften erst russische Stellungen in Osten bei Pryjutne und im Westen bei Novodonetske fallen, bevor Staromlyniwka am Fluss Mokri Jaly attackiert wird.
Bild: YouTube/Military Lab

Im Anschluss könnten ukrainische Kräfte in einer Zangenbewegung das Nachschub-Zentrum Staromlyniwka angreifen. Ihr Vorteil ist, dass sie laut Military Lab in diesem Frontabschnitt die Artillerie-Hoheit haben. Anscheinend zahlt sich hier Kiews Taktik aus, russische Artillerie, Depots und Nachschubwege systematisch zu zerstören.

Wer die Front weiter nach Nordosten abfährt, sieht bei Wuhledar und Donezk kaum Veränderungen in ihrem Verlauf. In diesen Gebieten wird seit 2014 immer wieder gekämpft, was erklärt, warum es hier so statisch zu- und hergeht. Das gilt aber nicht für die Region von Bachmut – und insbesondere die Dörfer im Süden der Stadt.

Auch dort beeinflusst die aktuelle Lage die Kämpfe: Weil bei Robotyne Truppen gefehlt haben, sind bei Klischtschijwka die Luftlandetruppen WDW abgezogen und dorthin verlagert worden. In der Schlacht um Klischtschijwka muss Moskau deshalb wieder Soldaten nachführen.

«Russland setzt einige seiner letzten guten Reserveeinheiten ein», analysiert «Forbes» ob der verschiedenen Verschiebungen. Allerdings bleiben die russischen Soldaten fast überall vor allem in der Defensive.

Es knallt auch hinter der Front

Beide Kriegsparteien versuchen natürlich auch weiterhin, ihren Gegner im Hinterland zu treffen – mit gemischtem Erfolg. Der ukrainischen Luftwaffe ist es etwa nach eigenen Angaben gelungen, in der Nacht auf den 27. August vier russische Marschflugkörper abzufangen.

Auch die Gegenseite schiesst scharf – und trifft Ziele 20 Kilometer von der Front entfernt in Tokmak (siehe oben), in der Hafenstadt Berdjansk am Asowschen Meer ...

... und in Kursk, das 100 Kilometer hinter der Grenze zur Ukraine liegt. Hier hat Kiew überraschend zugeschlagen und mit einem Drohnen-Schwarm in der Nacht auf den 27. August vier Su-30- und einen Miog-29-Kampfjet sowie eine S-300 und zwei Panzir-Flugabwehrsysteme beschädigt, berichtet die «Ukrajinska Prawda».

Dass der Angriff derart effektiv war, ist anscheinend der Bauart der Drohnen geschuldet: Angeblich waren Exemplare des australischen Herstellers Sypaq Corvo im Einsatz, die aus Karton bestehen und vier bis fünf Kilogramm tragen können. Sie sollen eine Reichweite von 1230 Kilometern haben.

Das reicht zwar nicht, um die russische Stadt Kemerowo zu treffen, die 3300 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt ist. Doch auch dort gab es ein Feuer in einer pyrotechnischen Fabrik. Ob es sich um einen Unfall oder Sabotage handelt, steht noch in den Sternen.

Einordnung

Die Angriffe und Verluste setzen der russischen Rüstungsindustrie zu, glaubt Kyrylo Budanow. Andernfalls würde Moskau in Nordkorea, dem Iran oder Kuba nach Munition fragen, erklärt der Direktor des ukrainischen Militärnachrichtendienstes. «Ausser der menschlichen hat [Putin] keine Ressourcen mehr», sagt er in einem Interview. «Das ist die einzige Sache, von der sie noch ausreichend Quantität haben.»

Die Washingtoner Denkfabrik Center for European Policy Analysis (CEPA) attestiert der Ukraine derweil: «Ukraine – der Sieg ist näher als angenommen». Entgegen aller Unkenrufe mache Kiew «substanzielle Fortschritte». «Russlands Generäle wissen das, auch wenn der Westen es nicht tut», analysieren die Amerikaner.

Das CEPA wiederholt, was auch schon im Lagebild Ukraine angesprochen worden ist: Wenn die ukrainischen Streitkräfte im Süden nur 10 bis 15 Kilometer weiter vorrücken, bedroht ihre Artillerie die russischen Nachschublinien in der Region.